Elli gibt den Loeffel ab
täglichen Überlebenskampf im Großstadtrevier zu verlernen. Ein jeder lief Gefahr, das Schöne um ihn herum nicht mehr wahrzunehmen. Kein Wunder, ging es doch beim täglichen Großstadttanz um die goldenen Kälber primär um Macht, Gier und Missgunst. Die Hektik und die denaturierten Lebensformen, die bei der Ernährung anfingen und bei zu wenig Bewegung an der frischen Luft aufhörten, konnten zu gar nichts anderem als zu einem unglücklichen Leben führen, stellte Heinz wieder einmal fest. Er nahm es als Beweis dafür, dass er wahrlich ein schönes Leben führte, und genoss beim Gedanken an die Welt, die weit hinter ihm lag, den warmen Strahl des Wassers und den Duft der Seife umso mehr.
Oskar erinnerte ihn zudem jeden Tag daran, wie einfach es war, glücklich zu sein. Der Hund freute sich auf sein Fressen, aufs Gassigehen, auf die vielen Gerüche, die er unterwegs erschnüffelte, und natürlich darauf, jeden Morgen mit seinem Herrchen aufzuwachen. Je einfacher und reduzierter man sich das Leben einrichtete, je mehr man sich von unnötigem Zivilisationsballast trennte, desto freier und offener für das Glück um einen herum war man.
Hoffentlich würde Eleonore die Begegnung mit den einfachen Menschen hier guttun. So, wie er sie einschätzte, war sie kein rundum glücklicher Mensch. Sie schien zu viel an vergangenem Glück festzuhalten. Lebte nicht im Hier und Jetzt. Die Art, wie sie auf der Autofahrt von den Reisen mit ihrem Mann geschwärmt hatte, klang so, als ob sie Lebensglück ausschließlich mit Vergangenem assoziierte. Eine richtige Früher-war-alles-besser-Pessimistin. Dennoch musste er sich eingestehen, dass er ihr Wesen als sehr angenehm empfand. Er hatte sich sogar dabei ertappt, dass er sich ein paar Mal von ihrem warmen Lächeln hatte verzaubern lassen, und immer wenn sie lächelte, verwandelte sie sich in eine attraktive Frau. Vielleicht waren es die Grübchen, vielleicht war es aber auch das Funkeln in ihren Augen oder ihr Herz für Tiere. Warum sonst hatte sie mit Oskar so schnell Freundschaft geschlossen?
Ob sie wohl noch mit mir zum Lagerfeuer an den See kommt?, fragte er sich, als er splitternackt aus einer der von schlichten Trennwänden separierten Duschen kam und sich mit dem Handtuch das Gesicht trockenrieb. Da riss ihn ein entsetzter Aufschrei jäh aus seinen Gedanken, und schlagartig standen sich zwei nackte Tatsachen gegenüber. An sich war das kein Problem für Heinz, wohl aber ein großes für sein Gegenüber. Eleonore, die sich hektisch die Hüften mit einem Handtuch umwickelte, was sich als schwierig erwies, weil sie gleichzeitig versuchte, ihre Brüste mit den Händen zu bedecken. Schließlich fiel ihr auch noch das Handtuch herunter.
Heinz wendete sofort den Blick ab und hielt sich demonstrativ die Hand vor die Augen. »Ich habe nichts gesehen, keine Sorge«, rief er mit zusammengekniffenen Augen, in der Hoffnung, sie zu beruhigen.
»Was machen Sie in den Frauenduschen?«, entrüstete Eleonore sich.
»Es sind Gemeinschaftsduschen«, stellte er klar und bereute, ihr nicht von Anfang an reinen Wein eingeschenkt zu haben. In Naturistencamps waren Gemeinschaftsduschen alles andere als unüblich. »Kann ich die Augen wieder aufmachen?«
»Nein!«, hallte es scharf durch den Duschraum.
Heinz vernahm nur das Geräusch eines über die Haut streifenden Handtuchs, dann ein Platschen auf dem Steinboden, gefolgt von einem leisen Tapsen.
»Jetzt?«
Keine Reaktion.
Er wagte es immer noch nicht, die Augen zu öffnen. Stille! Warum brauchte sie nur so lange? Augen auf. Sie war weg — vermutlich stinksauer auf ihn. Im Grunde genommen zu Recht.
Fast ein wenig zaghaft klopfte es an die Tür des Wohnwagens, die Elli beim Anziehen genau im Blick hatte. Ein bisschen wollte sie Heinz angesichts des Duschdebakels allerdings noch zappeln lassen.
»Eleonore, es tut mir leid. Ich hätte es Ihnen vorher sagen sollen«, drang seine reumütig gefärbte Stimme zu ihr herein.
Allerdings! Im selben Moment machte Elli sich klar, dass sie sich immerhin in seinem Wohnwagen verbarrikadiert hatte. Dass er überhaupt so sachte anklopfte und nicht einfach hereinkam, sprach für ihn. Bevor sie in die Schuhe geschlüpft war, würde sie ihn dennoch nicht hereinlassen.
»Moment«, rief sie und öffnete erst die Tür, nachdem sie sich im Spiegel ausgiebig begutachtet und als für die Zivilisation bereit eingestuft hatte.
Mit betretenem Blick stand er, noch immer in das Badetuch gewickelt, vor ihr und wirkte
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