Ellin
Vorsprünge ausreichend Halt boten, um halbwegs sicher hinabzuklettern, doch würde der Abstieg auf diesem Weg wesentlich länger dauern. Immer wieder kreuzten kleine und größere Wasserströme ihren Weg und zwangen sie dazu, einen Umweg zu machen. Mehrmals rutschte sie aus und geriet in Gefahr abzustürzen, konnte sich aber im letzten Moment an einem vorspringenden Gesteinsbrocken oder einem Riss festhalten. Es dauerte nicht lange und ihre Arme zitterten vor Anstrengung. Ihre Haut war eiskalt und trotz der Plackerei schlotterte sie. Tränen mischten sich unter das über ihr Gesicht laufende Wasser. Am Ende ihrer Kräfte ließ sie sich auf einen kniehohen Stein fallen, barg ihr Gesicht in den Händen und schluchzte laut. Der nicht enden wollende Regen hüllte sie in einen rauschenden Strom.
Nachdem sie sich ausgeweint hatte, warf sie einen Blick in den Himmel. Die Nacht brach herein, sie musste einen Unterschlupf suchen. Ächzend stemmte sie ihre tauben Glieder hoch und kletterte weiter. Nebenbei hielt sie Ausschau nach einer Höhle oder einem Felsvorsprung, der ihr ausreichend Schutz vor dem Regen bieten würde, doch weit und breit war nichts zu sehen als scharfkantiges Gestein. Immer schneller senkte sich die Nacht herab. Lange Schatten verdunkelten den Weg. Ellin war kaum noch in der Lage, zehn Doppelschritte weit zu blicken.
Auf allen Vieren schob sie sich an den Rand eines schmalen Plateaus und wagte einen Blick in die Tiefe. Trotz des schwachen Lichts konnte sie die schemenhaften Baumwipfel erkennen, die aus der bodenlosen Tiefe unter ihr aufragten. Der Anblick gab ihr neuen Mut und rüttelte ihre letzten Kräfte auf. Geduckt kletterte sie an die Felswand zurück und setzte ihren Abstieg fort. Ein Wasserschwall klatschte in ihr Gesicht, während sie sich einen schmalen Vorsprung entlanghangelte. Erschrocken krallte sie sich am Felsen fest. Erst als sie sicher war, dass sie nicht abstürzen würde, schüttelte sie das Wasser aus den Haaren, die sich in einen triefenden Schleier verwandelt hatten. Zu ihrer Rechten entdeckte sie einen Vorsprung, über den sich einer der unzähligen Wasserfälle ergoss. So schnell wie möglich klettert sie darauf zu und durchschritt das tosende Wasser. Wie erhofft verbarg sich dahinter ein drei Schritt breiter, höhlenähnlicher Raum. Da er leicht abschüssig war, konnte das Wasser nicht hineinlaufen und so war er vergleichsweise trocken. Erschöpft sank sie zu Boden. Eine Weile saß sie einfach nur da, schöpfte Atem und wartete darauf, dass die zittrige Schwäche aus ihren Gliedern wich. Anschließend nahm sie das Bündel vom Rücken und öffnete es. Ihre Sachen waren durchweicht. Egal.
Heißhungrig wickelte sie ein Stück Trockenfleisch aus und biss hinein. Durch die Feuchtigkeit war es aufgequollen und weich, doch genießbar. Die Fladen hingegen waren zu einem breiigen Haufen verkommen und auch der Käse sah alles andere als schmackhaft aus. Er hatte sich in eine schmierige, zähe Masse verwandelt und klebte an dem Tuch, in das er gehüllt war. Vorsichtig holte Ellin das verdorbene Essen heraus und legte es neben sich. Auf dem Boden ihres Bündels entdeckte sie mehrere unversehrte Rotbaumnüsse. Gerade in der Zeit des Langen Regens waren diese weichen, fingerlangen Nüsse schwer zu bekommen. Affra hatte sich einer großen Gefahr ausgesetzt, als sie diese aus dem Vorratskeller gestohlen hatte. Dankbar nahm sie eine Nuss, schälte die borstige Haut ab und biss hinein. Köstlich!
Nachdem sie einigermaßen gesättigt war, begann sie damit, ihre Kleidung auszuwringen. Anschließend breitete sie die Sachen auf dem Boden aus, in der Hoffnung, dass sie bis zum Morgen trocknen würden. Auch die Kleidung, die sie am Leib trug, zog sie aus und legte sie neben ihr Bündel. Der nasse Umhang, in den sie sich einwickelte, spendete keine Wärme. Schlotternd saß sie auf dem Boden, während die Welt um sie herum in Schwärze versank. Die Nacht brachte eine kaum auszuhaltende Kälte. Ellin fror so erbärmlich, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und ihr ein Platz in Lord Wolfhards Bett gar nicht mehr so schrecklich erschien. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, alles über sich ergehen zu lassen? Sie dachte daran, dass ihre Flucht mittlerweile sicher bemerkt worden war und stellte sich vor, wie Lord Wolfhard tobte und schrie, wilde Verwünschungen ausstieß und nach allem und jedem schlug, der in seine Nähe kam. Mit Sicherheit hatte ihre Flucht einen Sturm entfesselt, der sich so
Weitere Kostenlose Bücher