Ellin
in Sicht. Es musste sich um sehr hohe Bäume handeln. Nachdem sie zurückgekrochen war, suchte sie die farblose Ödnis nach einer Bleibe ab. Das Zwielicht des Tages verblasste bereits. Der Wind pfiff zwischen den Felsen hindurch. Kraftlos tastete sie sich an dem Vorsprung entlang, bis sie zu einer schmalen Nische gelangte.
Das muss genügen. Sie nahm ihr Bündel ab und hockte sich in den Spalt. Dort kauerte sie, die Arme um ihren schlotternden Leib geschlungen, während irgendwo über dem wolkenverhangenen Himmel der Nordstern erblühte und jenen, die sich nicht in Veckta befanden, ein wenig Licht spendete. Schwärze umfing sie, dunkler als die dunkelste Nacht. Sie weinte leise vor sich hin, bis sie vor Erschöpfung die Besinnung verlor.
Noch vor der Dämmerung erwachte sie. Ihre Glieder waren gefühllos und steif und in ihrer Brust tobte ein brennender Schmerz. Sie wartete, bis das fahle Morgengrauen die absolute Finsternis vertrieb, rappelte sich dann auf und setzte ihren Abstieg fort. Ihr war schwindlig und ihr Körper schrie nach Ruhe und Wärme. Ein Hustenkrampf löste sich aus ihrer Brust, jagte ein entsetzliches Stechen durch ihre Lungen. Erschrocken legte sie ihre Hand auf die schmerzende Stelle. Plötzlich verlor sie den Halt und rutschte abwärts. Zuerst ruderte sie mit den Armen und versuchte verzweifelt, sich irgendwo festzuhalten. Dann, ohne ersichtlichen Grund, dachte sie an ihre Eltern und wurde ganz ruhig. Sie schloss die Augen, verabschiedete sich im Geiste von Affra und Mathýs und akzeptierte das Unvermeidliche. Sie würde abstürzen und sterben. Hier auf dem Hammerfels. Die Chancen zu überleben waren sowieso gering gewesen.
Etwas Großes, Hartes stoppte ihren Fall abrupt. Ein Felsbrocken. Die Wucht des Aufpralls presste die Luft aus ihren Lungen. Da lag sie, verkrümmt und außerstande, sich zu rühren. Jeder Knochen tat weh. Das herabströmende Wasser platschte gegen ihren Leib und entzog ihm auch den letzten Funken Wärme. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Sie war nicht tot. Wäre sie es, hätte sie keine Schmerzen und würde nicht so entsetzlich frieren. Unter ihr rauschten die Bäume im Wind. Das Ende des Berges war nah. Einen Augenblick lang erlaubte sie sich den Gedanken an Aufgeben, bevor sie sich aufraffte und weiterkletterte. Nur noch ein kleines Stück. Die Baumwipfel waren mittlerweile auf Augenhöhe.
Endlich glitt sie von dem Felsen hinab und ein tiefes Gefühl der Erleichterung machte sich breit. Nur noch ein schmaler Grasstreifen trennte sie vom Waldrand, der nun, da sie ihm so nah war, ungewöhnlich düster und abweisend vor ihr aufragte. Riesige Laubbäume schossen in den Himmel hinauf und breiteten ihr undurchdringliches Blätterdach über den Waldboden. Ellin atmete tief durch, wobei sie erneut feststellte, dass ihr das Luftholen einige Mühe bereitete und brennende Schmerzen verursachte. Offensichtlich hatte sich die Nässe in ihren Lungen festgesetzt. Höchste Zeit für ein wärmendes Feuer.
Geduckt hastete sie über die Wiese und betrat den Wald. Trotz des trüben Zwielichts fand sich auf dem Waldboden eine reiche Pflanzenwelt, die sich den lichtarmen Verhältnissen angepasst hatte. Pilze, Farne, Moos, dorniges Gestrüpp und allerlei Kletterpflanzen, die sich auf der Suche nach Licht um die riesigen Bäume rankten. Ellin legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Die Baumwipfel waren so weit entfernt, dass sie nicht einmal genau erkennen konnte, wo sie endeten. Nie zuvor hatte sie derart riesige Bäume gesehen. Während sie lief, behielt sie den Boden im Blick, um nicht über eine Wurzel oder herumliegendes Geäst zu stolpern. Hier und da huschte kleineres und größeres Getier durch das Unterholz und erschreckte sie.
Der Regen war tatsächlich kaum zu spüren. Außer ein paar dicken Tropfen, die sich durch das Blätterdach stahlen und auf ihrem Kopf zerplatzten, blieb sie trocken. Sie beschloss, bis zur Mittagszeit zu gehen und anschließend ein Feuer zu entfachen und ein wenig zu ruhen. Die Wanderung durch den Wald war um einiges angenehmer als der Abstieg vom Hammerfels. Das Moos und die Pilze federten ihre Schritte ab, als würde sie auf einem weichen Kissen laufen, dafür machte die feuchte Luft das Atmen schwer.
Gegen Mittag suchte sie sich einen trockenen Platz zwischen den mächtigen Wurzeln eines ebenso mächtigen Baumes, legte ihr Bündel ab und begann, Holz zu sammeln. Mittlerweile musste sie immer wieder husten und ihre Brust schmerzte wie eine
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