Ellin
durch ihre Gedanken. Wieso war Lord Wolfhard so versessen darauf, sie in sein Bett zu zerren? Auf der Festung gab es etliche junge Frauen, die das Auge eines Mannes erfreuten und sich mit Freuden ihrem Dienstherrn zur Verfügung stellen würden, in der Hoffnung auf ein paar extra Prasis oder einer besseren Stellung. Warum wollte er gerade sie?
Ein dicker Kloß drückte gegen ihre Kehle. Sie schluchzte leise. Schnell drehte sie Affra den Rücken zu, um ihre Tränen zu verbergen. Sie wollte mutig sein und die Herzen der Menschen, die sie zurücklassen musste, nicht mit Sorge füllen, doch bei dem Gedanken an ihre ungewisse Zukunft und die Gefahren, die auf sie warteten, fiel es schwer, Haltung zu bewahren.
»Möchtest du noch ein wenig ruhen?«, fragte Affra verständnisvoll.
Ellin nickte, der Kloß in ihrem Hals verhinderte eine Antwort. Sie hörte, wie die Köchin sich erhob, zur Feuerstelle stapfte und Holz auflegte. Dann verließ sie die Kammer. Nun, da sie alleine war, schluchzte sie ungehemmt in ihr Kissen, bis sie vor Erschöpfung in einen traumlosen Schlaf versank.
Noch vor dem Morgengrauen erwachte sie und starrte an die dunklen Wände, die sich wie Kerkermauern um sie schlossen. Bei dem Gedanken an die steilen Felsklippen, den strömenden Regen und die überschwemmten Wege, wurde ihr übel vor Angst. Ihre Wunden kribbelten unangenehm und eine leichte Panik machte sich breit. Sie rieb ihre kalten Hände aneinander und warf einen Blick zur Feuerstelle. Das Feuer war erloschen. Ascheflocken bedeckten den Boden wie grauer Schnee. Vorsichtig setzte sie sich auf und tastete nach der Kerze neben dem Bett. Es war wohl das Beste, das Unvermeidliche nicht länger hinauszuzögern. Je eher sie die Festung verließ, desto weiter würde sie weg sein, wenn Lord Wolfhard ihr Fehlen schließlich bemerkte. Zwar glaubte sie nicht daran, dass er eine unbedeutende Dienerin verfolgen lassen würde, doch sicher war sie nicht. Sie mochte nur eine Dienerin sein, doch eine, die es vorzog, in die Wildnis zu fliehen, noch dazu während des Langen Regens, anstatt sich seiner Begierde hinzugeben. Wer konnte vorhersagen, zu was ihn sein verletzter Stolz treiben würde? Auf jedem Fall war es besser, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Felsenfestung zu bringen.
Die Tür zu ihrer Kammer öffnete sich, der schwache Schein einer Kerze fiel hinein. Erschrocken ließ Ellin die Feuersteine sinken. »Wer ist da?«
»Ich bin es, Affra. Du bist schon wach?«
Erleichtert atmete Ellin auf. »Ja.«
Hastig schloss Affra die Tür, entzündete das Holz und öffnete die Kleidertruhe. Obwohl Ellin keinen Appetit hatte, nötigte sie ihr einen Gerstfladen und einen Apfel auf. »Du musst etwas essen, Kind. Vor dir liegt ein beschwerlicher Abstieg.«
Ellin nickte ergeben. Ihr war speiübel. Trotzdem würgte sie den Gerstfladen und sogar den Apfel hinunter.
Während Affra ihr beim Waschen und ankleiden half, kroch ein grauer Morgen am Himmel herauf und rückte ihre Flucht in greifbare Nähe. Vorsichtig packte sie das Bündel auf den Rücken. Das grobe Untergewand rieb an ihrem Verband und das schwere Bündel drückte auf die verkrusteten Striemen. Immer wieder sog sie mit leisem Zischen die Luft zwischen die zusammengebissenen Zähne und widerstand dem Impuls, sich das Bündel vom Rücken zu reißen. Affra tat, als würde sie ihre Schmerzen nicht bemerken, wofür Ellin ihr dankbar war, doch ihre Augen waren voller Mitgefühl und Sorge.
Trotz der Gefahr für ihre eigene Stellung begleitete die Köchin sie nach draußen. Vor jeder Biegung hielten sie inne, lauschten und spähten vorsichtig um die Ecke. Endlos, so schien es Ellin, zogen sich die feuchtkalten Gänge der Festung dahin. Nie war ihr das Gemäuer so groß und verwinkelt erschienen. Trotz ihrer Vorsicht begegneten sie zuerst einer jungen Magd und dann einem Küchenjungen, die Ellin jedoch freundlich anlächelten und so taten, als wäre es nichts Ungewöhnliches, dass Lord Wolfhards Leibdienerin in Reisekleidung und mit einem dicken Bündel bepackt Richtung Innenhof strebte.
»Die Ereignisse in Lord Wolfhards Gemächern sind ein offenes Geheimnis«, erklärte Affra auf Ellins fragenden Blick. »Fast jeder hat schon Erfahrungen mit den Wutausbrüchen unseres Herrn gemacht. Die Mägde, die das Bett mit ihm teilen mussten, bewundern dich, und die Diener, die er gedemütigt und gezüchtigt hat, erinnern sich nur allzu gut an ihre Pein. Sie würden dich nie verraten.«
Ellin kannte
Weitere Kostenlose Bücher