Ellin
hören.
Hör auf zu träumen und steh auf! , befahl die Stimme in ihr.
Aber ich bin so müde.
Schlafen kannst du, wenn du tot bist. Steh auf! Die Stimme duldete keine Widerrede.
Und Ellin gehorchte. Warum hörte sie auf die Stimme? Wimmernd rappelte sie sich auf und stolperte vorwärts. Weiter, immer weiter. Jedes Mal, wenn sie in Versuchung geriet, auf den Boden zu sinken, erklang die Stimme und trieb sie voran. Sie wankte, stolperte, fiel hin und rappelte sich doch immer wieder auf. Der Wald verschwamm vor ihren Augen, verlor seine Konturen, wie eine Landschaft, die sich auf dem Wasser spiegelt. Die Farben flossen ineinander, waberten um sie herum und bewegten sich in Einklang mit dem Waldboden. Schmerzen tobten in ihrer Brust und es war so heiß, so schrecklich heiß.
Wasser. Sie griff nach dem Wasserschlauch, leerte ihn bis auf den letzten Tropfen und behielt ihn in den Händen, zu schwach, um ihn wieder zu verstauen. Wo endete der Wald und wann? Wie lange stolperte sie schon ziellos umher?
Gleich hast du es geschafft , versprach die Stimme. Sie werden dich finden.
Wer wird mich finden? Und wo bin ich überhaupt?
Bleib nicht stehen. Geh weiter!
Und Ellin ging weiter, ohne Blick und ohne Ziel, bis ihre Beine sie nicht mehr trugen. Ohne Vorwarnung knickten sie unter ihr weg. Sie schlug flach auf den Boden. Ihre Augen schlossen sich. Dunkelheit senkte sich über ihre Sinne.
Die Stimme war verstummt.
4
K ylian fluchte laut, während er einen dicken Ast unter das Vorderrad des Wagens zu schieben versuchte. Es war tief in den schlammigen Boden gesunken.
»Wegen dieses verdammten Regens sind wir nicht einmal einen Tagesritt weit gekommen«, schimpfte er.
Die schwarzen Haare hatten sich aus dem Lederband gelöst, mit dem er sie normalerweise zu bändigen versuchte, und fielen über sein Gesicht. Regen rann über seine Stirn und tropfte von den Haarspitzen. Sein linkes Auge, das von einer wulstigen Narbe, die sich von Lid aus bis hinauf zur Augenbraue zog, verunstaltet war, zuckte nervös.
Geldis, die alte Seherin der Gruppe, stand auf ihren Stock gestützt an seiner Seite und schüttelte den Kopf. »Ich habe es dir prophezeit. Du wirst den Langen Regen noch verfluchen.«
Kylian warf ihr einen giftigen Blick zu, enthielt sich aber einer Erwiderung und arbeitete verbissen weiter. Seine Schwester Nuelia kam herbei und versuchte mit bloßen Händen, das Rad vom umliegenden Schlamm zu befreien.
»Butan, komm her und hilf uns«, rief sie.
Butan, braunhaarig und breit wie ein Bär, legte die gepolsterten Zugringe der Gäule auf den Kutschbock und stapfte durch den Matsch auf sie zu.
»Lass mich mal.« Beherzt schob er Kylian zur Seite und griff nach dem Ast.
»Danke, mein Freund.« Ächzend erhob Kylian sich und blickte sich um. »Wir brauchen einen dicken, gegabelten Ast und kein erbärmliches Stöckchen, Jesh«, schnauzte er den schlaksigen, jungen Mann an, der am Wegrand stand und einen armlangen Ast in die Höhe hielt. »Geh tiefer in den Wald hinein und sieh, ob du etwas Brauchbares findest.«
Jesh machte ein missmutiges Gesicht.
»Beeil dich!«, knurrte Kylian, hockte sich dann neben seine Schwester und half ihr, den Schlamm zur Seite zu schieben. Obwohl die Bäume vor dem schlimmsten Regen schützten, waren seine Kleider mittlerweile durchnässt. Schlammspritzer sprenkelten sein Wams.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass Jesh am Waldrand herumschlich, kleine Äste und Zweige anhob und lustlos in Büsche trat.
»Ich kann dich sehen, Jesh. Wie willst du einen passenden Ast finden, wenn du nur am Rand herumsuchst? Du musst tiefer hinein«, rief er.
Jesh hielt inne. »Da gehe ich nicht rein. Dieser Wald jagt mir Schauer über den Rücken.«
Kylian rollte mit den Augen. Was war nur mit dem Jungen los? Außer Waldhörner erlegen und kochen konnte er nicht viel und feige war er obendrein. Natürlich war Jesh noch nicht so unerschrocken und kampferprobt wie Butan, Nuelia oder er, doch am Tag in einen Wald zu gehen, um einen Ast zu suchen, sollte eigentlich nicht allzu schwer sein. »Dann komm her und hilf Nuelia und Butan. Ich gehe in den Wald«, knurrte er.
Während er den Schlamm von seinen Händen wischte, dachte er daran, wie Jesh fünf Sternenläufe zuvor zu der Gruppe gestoßen war, abgemagert und verängstigt. Auf der Flucht vor einem Menschenmob, der seine gesamte Familie hingerichtet hatte. Der Landesherr hatte ihre wahre Natur entdeckt und eine Belohnung auf ihre Köpfe ausgesetzt. Wie die
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