Ellin
Überall liegen tote Leiber. Die Luft, geschwängert von dem Geruch nach Eingeweiden und Blut, vermischt sich mit dem beißenden Rauch zu einer Übelkeit erregenden Komposition. Mit schreckensweiten Augen setzt Ellin sich in Bewegung. Wo sind ihre Eltern?
»Mutter? Vater?«, ruft sie.
Die leblosen Augen der Getöteten glotzen sie an. Bleich und reglos liegen sie da, verfolgen sie mit ihrem starren, blutigen Blick. Sie machen ihr Angst. Ellin bleibt stehen und schlägt die Hände vors Gesicht. »Geht weg«, schluchzt sie.
»Ellin?« Eine Stimme, leise und kraftlos.
Sie späht durch die Finger, nimmt dann all ihren Mut zusammen und lässt die Hände sinken. »Mutter?«
Sie blickt sich um und entdeckt den Schatten einer Bewegung hinter der Scheune.
»Ellin«, ruft die Stimme erneut.
Sie zögert. Zwei tote Erntehelfer versperren ihr den Weg. Und warum klingt die Stimme ihrer Mutter so schwach, so zerbrechlich und zart wie eine Götterblüte, die von dem kleinsten Windhauch davongetragen wird?
»Sieh nicht hin, Kind. Hör nur auf meine Stimme. Komm zu mir«, ruft ihre Mutter.
Ellin gibt sich einen Ruck und läuft los. Sie achtet nicht auf ihren Weg, der gepflastert ist mit Leichen, blickt weder nach links noch nach rechts, läuft starr geradeaus, nur darauf bedacht, zu der flüsternden Stimme hinter der Scheune zu gelangen. Plötzlich stolpert sie und fällt hin. Erschrocken blickt sie auf die Füße, die sie zu Fall gebracht haben. Sie kennt diese Füße. Ihr Blick wandert die Beine hinauf, bis zu dem eingeschlagenen Schädel ihres Vaters, der auf einem umgekippten Korb mit Gerstknollen liegt.
»Vater?«, fragt sie unsinnigerweise, denn ihr Vater ist tot, so tot wie all die anderen. Nur blickt er sie nicht mit zwei starren Augen an, sondern nur mit einem − das andere ist zwischen seinen zertrümmerten Schädelknochen gerutscht. Sie wimmert leise.
»Ellin, bitte, sieh nicht hin«, flüstert die Stimme, so schwach und doch eindringlich.
Sie reißt sich vom Anblick des toten Vaters los und geht weiter. Blindlings setzt sie einen Fuß vor den anderen, folgt der wispernden Stimme, die sie an unsichtbaren Fäden auf dem richtigen Weg geleitet.
Ihre Mutter liegt an die rückwärtige Scheunenwand gelehnt. In den Armen hält sie Ellins kleinen Bruder Janus, der noch nicht einmal einen Sternenlauf zählt. Sein bleiches Gesicht ist starr, ein feiner Blutfaden rinnt aus seinem winzigen Mund, wie ein Dämonenmal auf zarter Reinheit. In der Brust ihrer Mutter steckt ein Speer. Entsetzt schlägt Ellin die Hand vor den Mund.
»Komm her«, wispert die Mutter und hebt den Arm. Ellin stürzt auf sie zu, sinkt auf die Knie und ergreift ihre Hand. Sie ist ganz kalt.
»Mutter, was ist geschehen?«
Die Mutter schließt für einen Augenblick die Augen, sie atmet röchelnd. »Ellin … ich … sterbe.«
Ellin drückt die Hand ihrer Mutter so fest sie kann. »Nein. Du darfst nicht sterben. Ich hole den Heiler, der zieht den Speer aus deinem Leib.« In ihrer Stimme klingt Panik.
»Hab … dich lieb … Ellin. Geh zu … Tilda … sie … wird …« Die Stimme verliert sich in einem Stöhnen.
»Mutter?« Ellin schüttelt ihren Arm. »Mutter?«
Die Mutter sieht sie an, versucht zu lächeln. Ein eigenartiges Glucksen entringt sich ihrer Kehle, schaumiges Blut quillt zwischen den Lippen hervor. Wie gelähmt verharrt Ellin an ihrer Seite während sich Tränenbäche aus ihren Augen ergießen und von ihren Wangen tropfen. »Bitte Mutter, geh nicht fort, verlass mich nicht«, schluchzt sie.
Die Mutter blinzelt. Eine Träne löst sich aus ihrem Augenwinkel, rinnt die Wange hinab und vermischt sich mit dem Blut. Obwohl Ellin sie immer wieder darum bittet zu sprechen, bleibt sie stumm. Doch sie hält ihren Blick. Und während die Zeit verrinnt, ringt sie um jeden Atemzug.
Wie lange sie neben ihrer Mutter kauert und ihr beim Sterben zusieht, weiß sie nicht. Es erscheint ihr endlos lang und zugleich viel zu kurz. Schließlich gurgelt sie leise. Dunkelrotes Blut quillt aus ihrem Mund. Das Licht in ihren Augen bricht. Der letzte Atemzug schwebt davon. Das, was einst ihre Mutter war, verlässt den geschundenen Leib und lässt etwas ganz und gar Fremdes und Kaltes zurück. Der Kopf sackt nach vorne. Janus rutscht aus ihren Armen und rollt über ihre ausgestreckten Beine, bevor er zwischen den Schenkeln zum Erliegen kommt.
»Mutter?«, wispert Ellin fassungslos.
Doch ihre Mutter ist tot, vor ihren Augen gestorben. Während sie wie
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