Ellin
auf den ersten Auswuchs und stieß sich mit dem anderen vom Boden ab. Zitternd vor Schwäche klammerte sie sich an den Ästen fest. Nur mit reinem Überlebenswillen gelang es ihr, den Baum zu erklimmen, bis sie zu einer breiten Gabelung gelangte, die ausreichend Platz bot. Keuchend sackte sie auf das raue Holz. Unter sich vernahm sie das Knurren der Kreatur, die nun, da das Feuer erloschen war, um den Baum herumschlich und darauf wartete, dass ihre Beute den Halt verlor und hinabstürzte. Die Muskeln an Ellins Armen zitterten unkontrolliert und eine heftige Übelkeit drückte ihren Mageninhalt nach oben. Sie erbrach sich über den Rand des Baumes und sank dann ermattet zurück. Ihr letzter klarer Gedanke galt der Frage, ob die Kreatur wohl in der Lage war, auf Bäume zu klettern.
Es ist der letzte Tag der Ernte. Ellin steht auf einem riesigen Feld inmitten mannshoher Gerstpalmen, die sie weit überragen. Gebogene, rotgrüne Blätter hängen an den mit Gerstknollen beladenen Stämmen. Obwohl ihre Eltern die Lehnsnehmer des Gerstfeldtals sind, helfen auch sie tatkräftig mit. Während der Ernte tut niemand etwas anderes, jeder widmet sich dem Pflücken, sogar die Kinder. Ellins Tragekorb ist fast voll, die Riemen schneiden in ihre Schultern, hinterlassen rote Striemen auf ihrer Haut, trotzdem hat sie ein fröhliches Lied auf den Lippen.
Traditionell wird am letzten Tag der Ernte ein Fest gefeiert, um sich bei den Göttern zu bedanken. Ellin freut sich schon seit langem darauf. Sie liebt das Erntefest, wo bunte Lichter entzündet werden und es süßen Kuchen, gegrilltes Fleisch, warme Gerstfladen, Kräuterschmalz und vergorenen Schwarzbeersaft gibt, von dem sie, trotz ihres kindlichen Alters, einen halben Becher trinken darf. Am meisten gefällt ihr jedoch das Singen und Tanzen. Und die Gaukler, die manchmal vorbeikommen, bei der Ernte helfen und am Abend des Festes ihre Kunststücke vorführen. Es ist magisch.
Sie stellt sich auf die Zehenspitzen, um eine letzte Gerstknolle zu pflücken, als die Halterung ihres Tragegurts reißt. Die Knollen kullern aus dem Korb und fallen zu Boden. Ein paar zerbersten mit einem satten Geräusch und verteilen ihren körnigen Inhalt auf der Erde. Wütend nimmt sie den Korb ab, kniet sich hin und beginnt, die unversehrten Knollen aufzusammeln.
Irgendwo vom Rand des Feldes trägt der Wind ungewohnte Geräusche heran. Lautes Rufen, Schreie. Pferde wiehern. Sie steht auf, stellt sich auf die Zehenspitzen und versucht, über die Gerstpalmen zu blicken, doch sie ist zu klein. Alles, was sie sehen kann, sind die unzähligen, abgeernteten Stämme mit ihren langen, gebogenen Blättern. Schnell kniet sie sich hin und sammelt die Gerstknollen auf.
Der holzige Duft der zerplatzten Knollen kitzelt in ihrer Nase, vermischt sich mit Brandgeruch. Verdutzt hält sie inne. Hat der Vater etwa schon das Feuer entfacht? Doch der Rauch riecht nicht nach einem Lagerfeuer. Beißend und schwer hängt er in der Luft, er reizt ihre Lungen und lässt sie husten. Sie blickt in den Himmel und sieht eine dunkle Rauchsäule aufsteigen. Wieder erklingen Schreie und etwas, das sich anhört wie Hufeisen, die der Schmied in einen Korb aufeinanderwirft, ein Klirren und Schaben. Männerstimmen flirren durch die Luft, rau und laut, und das Wiehern von Pferden.
Etwas Dunkles senkt sich auf sie hinab. Eine böse Ahnung weht die fröhlichen Lieder fort, die auf ihren Lippen liegen. Plötzlich sind die Gerstknollen unwichtig. Eilig richtet sie sich auf und strebt dem Rand des Feldes zu. Unzählige Male hat sie sich in der Unendlichkeit des Gerstpalmenfeldes verirrt, doch mittlerweile hat sie gelernt, sich an der großen Sonne zu orientieren und an den Geräuschen der Erntehelfer. Trotzdem dauert es lange, bis sie endlich das Ende des Feldes erreicht. Sie wundert sich, warum sie niemandem begegnet. Normalerweise trifft sie immer auf den ein − oder anderen Erntehelfer. Überhaupt ist alles gespenstisch ruhig.
Beklommen tritt Ellin ins Freie. Ihr klopfendes Herz erinnert sie an die verletzte Thalmeise, die sie vor nicht allzu langer Zeit auf der Weide hinter dem Haus gefunden hat. In ihren Händen hat sie den Herzschlag des kleinen Vogels spüren können, rasend schnell, wie der Flügelschlag einer Libelle.
Sie blickt sich um und das Erste, was sie sieht, ist das Feuer. Das Haus ihrer Eltern steht in Flammen. Dicker, grauer Rauch quillt aus den Fenstern und steigt in den Himmel empor. Ihr entsetzter Blick wandert weiter.
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