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Ellin

Ellin

Titel: Ellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Millman
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erstarrt neben den Toten verweilt, erhebt sich ein seltsames Rauschen. Ein Vogel schreit. Andere Vögel stimmen in sein Geschrei mit ein, ihr Krächzen schwillt zu einem schier unerträglichen Getöse an. Warum sind sie so laut? Sie sollen still sein! Ellin presst die Hände auf die Ohren.
    »Seid still«, ruft sie.
    Doch die Vögel krächzen weiter. Ein Schluchzen entringt sich ihrer Kehle.
    Plötzlich verschwimmt das Gesicht ihrer Mutter, ihr Körper löst sich auf und mit ihm ihr kleiner Bruder und alles, was sie umgibt, wird fortgeweht wie Rauch. Nur das aufdringliche Geschrei der Vögel bleibt.
    Ellin steht auf und dreht sich um. »Haut ab!«, ruft sie zornig. »Verschwindet!«
    Doch da ist nichts, kein einziger Vogel, nur das brennende Haus ihrer Eltern und der Tod, der sie aus blicklosen, weißen Augen anstarrt. Sie ballt die Hände zu Fäusten und schreit …
    Ihr verzweifelter Schrei schreckte die Vögel auf, die laut kreischend davonflatterten. Verwirrt blickte sie sich um. Nur langsam verblasste die schreckliche Erinnerung und machte Platz für die Wirklichkeit. Sie war nicht im Gerstfeldtal, ihrem Zuhause, sie befand sich auf einem Baum im Wald am Fuße des Hammerfelsens. Ihr Kopf schmerzte, als hätte ihr jemand mit einem Schmiedehammer daraufgeschlagen und in ihrer Brust lagerte ein Gesteinsbrocken, der jeden Atemzug zur Folter machte. Ihre Haut glühte. Sie schloss die Augen und legte sich zurück. Sie hatte keine Medizin, kaum etwas zu essen und war mittlerweile völlig entkräftet. Eigentlich müsste sie den Baum verlassen und weiterlaufen, doch sie war zu schwach und der Wunsch, einfach liegenzubleiben und zu schlafen, übermächtig.
    Der Tag flog zwischen Wachen und Träumen dahin. Fiebrige Visionen wechselten sich ab mit erstickenden Hustenkrämpfen. Ab und zu trank Ellin einen Schluck Wasser aus ihrem Wasserschlauch, der sich langsam aber sicher leerte, nur um anschließend erneut in selige Dunkelheit zu versinken. Der quälende Husten riss sie immer wieder aus ihren Träumen, schüttelte sie durch und ließ sie nach Atem ringend zurück.
    Die Nacht brachte einen kalten Wind, der sie, trotz der verzehrenden Hitze in ihrem Leib, frösteln ließ. Von Zeit zu Zeit klatschten dicke Tropfen auf sie hinab und auch die knurrende Bestie war wieder da, schlich um den Baum herum, wetzte ihre Krallen an dem Holz und hoffte auf Beute. Die Phasen wirrer Träume und Erinnerungen vermischten sich mit der Wirklichkeit und wurden zu einem Zustand wacher Bewusstlosigkeit. Die Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Tag und Nacht verloren sich in einem Meer aus Fieberträumen, das sie auf sanften Wellen in die Unendlichkeit trug. Sie würde einfach hier liegenbleiben und auf den Tod warten. Er war schon ganz nah.
    Nein! , sagte plötzlich eine Stimme in ihr. Solange du atmest, wirst du kämpfen!
    Aber wofür? Ich bin viel zu schwach zum Kämpfen , erwiderte sie.
    Das bist du nicht! Steh auf und geh, verlasse diesen Baum , befahl die Stimme.
    Aber ich will nicht!
    Du musst! Steh auf, sofort!
    Ergeben richtete Ellin sich auf, wartete, bis der Schwindel nachließ. Sie trank etwas Wasser und zwang sich dazu, die letzte Rotbaumnuss zu essen. Dann setzte sie ihr Bündel auf den Rücken und schob sich zögerlich über den Rand des Baumes. Ihre Füße tasteten nach einem Halt, während sie sich an einem über ihr liegenden Ast klammerte. Langsam und vorsichtig begann sie, den Baum hinabzuklettern.
    Ich werde sowieso abstürzen , dachte sie nach einem kurzen Blick in die Tiefe. Ihre Glieder waren kraftlos wie die einer alten Frau. Es gelang ihr kaum, die Äste fest genug zu umklammern, um darauf zu stehen, geschweige denn, hinabzusteigen. Immer wieder wurde ihr schwarz vor Augen. Halb blind hangelte sie sich von Ast zu Ast, klammerte sich verzweifelt an allem fest, was sie zu fassen bekam und war jedes Mal überrascht, wenn es ihr gelang und sie nicht in die Tiefe stürzte. Einen Doppelschritt über dem Waldboden verlor sie dann doch den Halt und stürzte ab. Mit einem dumpfen Laut schlug sie auf dem Boden auf. Sie keuchte und verzog schmerzvoll das Gesicht, ein heftiger Hustenanfall schüttelte sie durch, bis sie das Gefühl hatte, zu ersticken. Anschließend lag sie leblos auf dem weichen Moos. Einfach liegenbleiben und in die Dunkelheit gleiten, wäre das nicht wunderbar?
    Sie schloss die Augen und schwebte davon. In der Ferne sah sie ihre Eltern und ihren kleinen Bruder Janus. Sie winkten fröhlich, fast konnte sie ihr Lachen

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