Ellin
Nuelia vor. »So hat sie zumindest eine Chance.«
Kylian kniff die Lippen zusammen und richtete seinen Blick auf die junge Frau zu seinen Füßen, betrachtete das zerzauste Haar und die Striemen auf ihrer Haut. Das Wohl seiner Gefährten lag ihm am Herzen, nicht aber das dieser Menschenfrau. War das herzlos? Immerhin trug er die Verantwortung für die Gruppe. Er sorgte für die Aufträge, die ihr Überleben sicherten, hielt sie von den Menschen fern. Warum nur hatte er die junge Frau aus dem Wald getragen? Sie brachte nichts Gutes, das spürte er. Zugleich bot sie einen erbarmungswürdigen Anblick, wie sie da lag, hilflos und geschunden. So gesehen wäre es tatsächlich herzlos, sie ihrem Schicksal und damit dem sicheren Tod zu überlassen.
»Also gut«, willigte er ein. »Aber wenn wir sie mitnehmen, muss sie im Wagen bleiben und unserem Weg folgen, bis wir zu einer Siedlung oder einem Weiler gelangen. Weder werde ich einen Umweg machen, noch sie vor denen beschützen, die nach ihr suchen. Und sie darf auf keinem Fall erfahren, wer wir sind.«
Zur Bekräftigung seiner Worte blickte er jeden Einzelnen an und wartete, bis sie mit einem Nicken ihr Einverständnis signalisierten. »Gut. Jetzt macht euch wieder an die Arbeit, damit wir endlich diesen verfluchten Regen hinter uns lassen können. Jesh, du suchst nach einem Ast.«
Gehorsam stapften Nuelia, Butan und Jesh davon, nur Geldis blieb zurück. Sie erhob sich, legte eine Hand auf Kylians Arm und lächelte ihn an. Dabei entblößte sie eine breite Zahnlücke, ein Zeichen ihres fortgeschrittenen Alters. »Es war die richtige Entscheidung.«
»War es das?«, fragte Kylian zweifelnd.
Die alte Frau nickte. »Als ich sie berührte, hatte ich eine Vision. Ich habe gesehen, dass sie dein Leben retten wird.«
Kylian stieß ein freudloses Lachen aus. »Das ist lächerlich. Wie könnte eine Menschenfrau mein Leben retten?«
»Meine Visionen trügen nie«, erwiderte die alte Frau. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, Kummer, gemischt mit einer Sorge, die Kylian nicht verstand.
»Was ist mit dir?«, fragte er misstrauisch. »Hast du noch etwas anderes gesehen? Was verbirgst du vor mir?«
Geldis schüttelte den Kopf und schwieg. Ihre trüben Augen glänzten feucht.
»Antworte mir!«, forderte er.
Die alte Frau stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wie du willst. Ich sah, dass dies meine letzte Reise sein wird. Ob das Alter mich zur Ruhe zwingt oder der Tod, vermag ich nicht zu sagen, nur dass es keine weitere Reise mehr geben wird.«
Kylian schluckte nervös, war für einen Moment sprachlos. Dann nickte er bedächtig. »Ich verstehe.«
Tröstende Worte zu sprechen lag nicht in seiner Natur, auch wenn er verstand, was die Vision für die alte Frau bedeutete. Viele Sternenläufe lang war sie mit seiner Gruppe umhergezogen, hatte Visionen heraufbeschworen und sie dann schnell und sicher ans Ziel geführt. Nie hatte sie sich über das entbehrungsreiche und gefahrvolle Leben beklagt oder auch nur in Erwägung gezogen, die Gruppe zu verlassen. Etliche Male hatte sie die Gefährten vor Gefahren gewarnt und ihrer aller Leben gerettet. Durch seine Verbundenheit mit Geldis hatte Kylian die zunehmende Schwäche bemerkt, schon bevor sie für alle offenbar geworden war. Doch mit jeder Falte, die sich in ihr Gesicht gestohlen hatte, war zwar ihre körperliche Kraft gesunken, gleichzeitig waren ihre Visionen und Vorhersagen immer ausführlicher und genauer geworden. Und so hatte er geschwiegen, hatte nur still beobachtet, wie sie immer langsamer und schwächer wurde. Bis zu diesem Tag.
Betreten blickte er zu Boden. »Es tut mit leid, das zu hören.«
Geldis lächelte traurig. »Bemüh dich nicht um tröstliche Reden. Ich weiß, du bist kein Freund großer Worte. Wir wussten schon immer, dass ich nicht halb so lange leben werde wie ihr. Doch das Ende meiner Reise bedeutet auch, dass ihr keine Seherin mehr bei euch haben werdet. Es ist an der Zeit, einen Ersatz zu suchen.« Sie nickte in Richtung der jungen Frau zu ihren Füßen. »Vielleicht hat sie Talent. Noch habe ich genug Kraft in mir, um sie zu lehren.«
»Wir brauchen keine neue Seherin«, murrte Kylian, dem der Gedanke an eine Fremde in ihrer Gemeinschaft zutiefst widerstrebte. »Vor allem keine menschliche.«
Geldis seufzte. »Wenn du auf eine Uthra warten willst, wirst du niemals fündig werden. Es gibt zu wenige von euch, das weißt du. Entweder du suchst dir eine menschliche Seherin oder du wirst sesshaft werden und
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