Ellorans Traum
kann Veeloras Enkel doch nicht in geliehenen Lumpen umherlaufen lassen, das würde sie mir nie verzeihen!« Seine lächelnden Augen verschwanden fast in den Polstern seiner Wangen. Ich bedeutete ihm meinen überwältigten Dank, aber er winkte ab. »Es bereitet mir Freude, lieber Junge. Nun gut, ich denke, wir beginnen unseren Arbeitstag. Die Besprechung mit dem Gesandten der Inseln ist für den frühen Mittag angesetzt. Ich muß vorher noch einige Papiere zusammensuchen und mir die Notizen deines Vorgängers über mein letztes Zusammentreffen mit dem Edlen Gioanî von Rhûn durchlesen. Aber dafür ist Zeit genug. Ich denke, wir können vorher noch bei Leonie vorbeischauen und fragen, ob sie Zeit für dich hat.«
Er beugte sich stöhnend aus dem Sitz, um nach seinem Stock zu angeln, der etwas außerhalb seiner Reichweite neben dem Sessel zu Boden gefallen war. Ich reagierte nicht schnell genug, um ihm helfen zu können, hatte mich aber sofort auch selbst vorgelehnt und sah nur deshalb sein ungeduldiges Fingerschnippen, und wie der Stock einen kleinen Satz machte und folgsam in seine Hand sprang. Hastig richtete ich mich wieder auf und blickte angestrengt zum Fenster hinaus, während Karas sich aus dem Sessel wuchtete und seine erstaunlich prunkvollen Kleider zurechtrückte. Er ordnete sorgfältig den weichen Fall seines blütenweißen Jabots und die Spitzenmanschetten, die üppig über seine Hände rieselten und warf mir einen ernüchterten Blick zu. Ich nahm seinen langen, aufwendig bestickten und mit kostbaren Steinen besetzten Samtrock auf und half ihm hinein. Dann traten wir auf den Gang und wandten uns nach links, zu der Treppe, die zu den oberen Geschossen führte.
»Der Gesandte der Inseln ist ein sehr auf Etikette bedachter Mann«, erklärte Karas, während wir uns der Treppe näherten. »Er würde es als groben Affront betrachten, wenn ich zu dieser Unterredung weniger aufwendig gekleidet erschiene, als er es seinem Stand entsprechend erwartet. Also ...« Er wies mit einer verdrossenen Handbewegung auf sein aufgeputztes Äußeres. Ich grinste. Kammerherr Karas fühlte sich sichtlich unwohl in seinen schönen Kleidern.
Wir waren am Fuß der Treppe angelangt. Karas blickte gequält an ihr hoch. Diesmal wartete ich nicht ab, sondern bot ihm sofort meinen Arm. Er stützte sich dankend darauf, und wir begannen, die Stufen zu erklimmen. Auf dem Treppenabsatz machten wir eine Verschnaufpause, bis Karas wieder einigermaßen bei Atem war und bewältigten dann den Rest des Aufstieges. Das obere Geschoß glich dem darunterliegenden wie ein Apfel dem anderen. Der Kammerherr wandte sich nach rechts und hinkte mir voraus, während ich mich noch umsah. Eilig schloß ich auf und folgte ihm um mehrere Ecken und durch einen offenen, überdachten Wehrgang in einen offenbar älteren Teil des Gebäudes. Hier waren die rohen Steinmauern nicht mehr verdeckt. Die riesigen Granitplatten des Bodens waren zu einem großen Teil gebrochen und beschädigt. Wir gelangten an eine Tür aus rissigem, altersdunklem Holz. Karas wischte sich übers Gesicht und klopfte heftig an.
»Kommt herein«, erklang gedämpft eine melodische Stimme. Der Kammerherr drückte die schwere Tür auf und ließ mich eintreten. Die dunklen Vorhänge an den Fenstern des Gemaches waren vorgezogen, und es herrschte Dämmerlicht. Ich konnte mit Mühe die Umrisse einiger Möbelstücke ausmachen und hörte das sanfte Gurren von Tauben und weichen Flügelschlag. Ein schwerer, süßer Duft lag in der warmen Luft.
Karas räusperte sich unbehaglich und rief: »Leonie! Wie wäre es mit etwas mehr Licht?« Eine Frau lachte weich gurrend wie eine der Tauben, und unsichtbare Hände zogen die Vorhänge zurück. Ich blinzelte in der plötzlichen Helligkeit, aus der sich jetzt in allen Einzelheiten das Bild einer großen, eindrucksvollen Statue schälte, die reglos vor uns neben dem Fenster stand. Ich starrte sie staunend an: Eine Frauenfigur, aus schwärzestem Ebenholz gearbeitet und in fließende weiße Gewänder gehüllt; um den schmalen, schönen Kopf mit den erstaunlichsten goldenen Augen schwebte wie eine Aureole eine dichte Wolke von weißem Haar. Auf der Schulter der Statue saß ein schwarzweißer Rabe.
Die Figur hob graziös eine schmale, seltsam langgliedrige Hand und reichte sie dem Kammerherrn zum Gruß. Ich löste mich aus meiner Erstarrung und errötete wegen meines ungebührlichen Starrens. Leonie – denn um die mußte es sich wohl handeln – blickte mich aus
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