Ellorans Traum
kleinen Vogel hervor. Er saß stumm, mit angstvoll bebenden Flügeln und klopfender Kehle in ihrer Hand. Besänftigend strich sie ihm über das Gefieder, bevor sie ihn in ein leeres Bauer sperrte. Dann schlug sie den Spiegel sorgfältig wieder ein und legte ihn in die Truhe zurück. Ich sah sie gebannt an, als sie jetzt wieder auf mich zukam.
»Das war der erste Schritt, Elloran«, sagte sie und half mir auf. »Jetzt werde ich diesen Vogel wieder das Singen lehren, und das ist eine mühsame Angelegenheit. Du wirst mir dabei helfen müssen, damit wir Erfolg haben.« Ich nickte dankbar und erleichtert. Sie begleitete mich zur Tür und sagte, während sie sie öffnete: »Komm morgen wieder zu mir. Und, Elloran«, ich drehte mich noch einmal um. »Denk an das, was ich dir gesagt habe.« Leise schloß sich die Tür.
12
D as Treffen mit dem Gesandten von Rhûn und Rhan wurde so aufregend, wie der Kammerherr es vorhergesagt hatte. Der Edle Gioanî entpuppte sich als klein und hochmütig, aufbrausend und äußerst anstrengend.
Ich suchte Karas sofort auf, nachdem Leonie mich entlassen hatte. Mir schwirrte zwar der Kopf, aber ich stellte alles hintan, bis ich mehr Muße dafür haben würde, über das nachzudenken, was an diesem Morgen geschehen war, und konzentrierte mich jetzt lieber auf meine Arbeit.
Ich fand den Kammerherrn in seinem vollgestopften Arbeitszimmer in der Nähe der Schreibstube, zwischen dem Archiv und der Bibliothek. Karas saß in Hemdsärmeln an einem von Papieren überquellenden Schreibtisch zwischen Bergen von Akten und Folianten und rieb sich verzweifelt über das Gesicht, als ich eintrat.
»Ah, gut, daß du kommst, Elloran.« Er sah mich besorgt an. »Fühlst du dich auch wohl?« Ich nickte. »Ich brauche deine Hilfe. Ich arbeite mich hier gerade durch die Aufzeichnungen Evans, aber mir fehlen noch Unterlagen über die Handelsabkommen mit den Inseln und da vor allem die Zusicherungen, die die Großfürstin bezüglich des Schutzes unserer Handelsschiffe vor S'aavaranischen Piraten gemacht hat. Wärest du so liebenswürdig, mir die entsprechenden Akten herauszusuchen? Du findest sie wahrscheinlich in dem Stapel, der dort in der Waschschüssel liegt.«
Er vertiefte sich erneut in seine Papiere. Ich hockte mich neben der Waschschüssel auf den Boden und sichtete den Aktenstapel. Die gesuchten Unterlagen fanden sich dann schließlich in einem unordentlichen Haufen neben dem Kamin zwischen Bergen von Protokollen etlicher Kronratssitzungen, die sich ausschließlich mit der Aufzucht von Frischlingen und der Einführung von Schonzeiten für das anscheinend von Ausrottung bedrohte Schwarzwild im Kronforst beschäftigten.
»Das war ein eminent bedeutsamer Gegenstand«, dozierte Karas und drehte die gesuchten Papiere zu einer akkuraten Rolle zusammen. »Das Schwarzwild hat mir den Kronrat für zwei Neunwochen vom Leib gehalten und seine Mitglieder während der gesamten Zeit wirksam daran gehindert, ihre Nasen in wichtige Angelegenheiten der Krone zu stecken.« Er zwinkerte mir zu. »Aber ich frage mich, was das Zeug hier in meinem Arbeitszimmer zu suchen ...« Er schlug sich vor die Stirn. »Natürlich! Es lag neben dem Kamin, richtig?« Ich nickte. »Genau. Mir waren im Herbst die Zunder ausgegangen, und ich hatte keine Lust, deswegen einen Diener zu rufen. Gut, daß ich noch nicht alles verbrannt habe, das Handelsabkommen mit den Inseln hätte mir jetzt sehr gefehlt.«
Er stand auf und quälte sich in seine Jacke. Dann zog er eine Schublade seines Schreibtisches auf und holte ein einfaches Holzkästchen hervor, dessen funkelnder Inhalt bei näherer Betrachtung aus einem nicht unbeträchtlichen Teil des Kronschatzes zu bestehen schien. Karas kippte die kostbaren Geschmeide nachlässig auf die unordentlichen Papierhaufen, die seinen Schreibtisch bedeckten, wobei das eine oder andere Juwel unbeachtet zu Boden kollerte, und suchte eine Handvoll Ringe mit riesigen geschliffenen Steinen heraus, eine goldene Nadel mit einem walnußgroßen Cabochon-Rubin und ein kleines Samtfutteral. Den blitzenden und schimmernden Rest der Juwelen fegte er achtlos zurück in das Kästchen, das er wieder im Schreibtisch verstaute. Dann griff er zu einer breiten, tressenbesetzten Ordensschärpe, die an seiner Stuhllehne hing, zog sie über seinen Kopf und ordnete sie über die Schulter. Er glättete mit den Fingern die goldenen Fransen der Schärpe, schüttelte die herabhängenden Quasten aus und zückte ein nicht mehr ganz
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