Ellorans Traum
es klang wie ein Fluch. Leonie lachte. Ich hörte, wie der Kammerherr seinen Stock auf den Boden stellte und aufstand. »Ich brauche Elloran gegen Mittag. Sieh zu, daß du bis dahin mit dem fertig bist, was du zu tun hast.« Seine Stimme klang hart und bestimmt. »Er findet mich in meinem Arbeitszimmer, sag ihm das!« Unregelmäßige Schritte entfernten sich, und eine Tür klappte. Der Kammerherr war grußlos gegangen und hatte mich mit dieser Frau alleingelassen. Ich fühlte ihre Gegenwart in meiner unmittelbaren Nähe, Hände hoben meinen Kopf an und bittere Flüssigkeit träufelte in meinen Mund. Ich hustete und schüttelte abwehrend den Kopf. Mein Blick klärte sich und das Leben kehrte in meine Glieder zurück. Ich sah in Leonies starre Vogelaugen. Unverhohlenes Vergnügen stand darin.
»Na, hast du alles gut verstanden?« fragte sie und half mir in eine aufrechte Haltung. Ich nickte schwach und schickte einen fragenden Blick in ihr Gesicht. Die Winkel ihres schönen, vollen Mundes kräuselten sich spöttisch. »Ich fand, du hättest ein Recht darauf zu erfahren, was dich hier erwartet. Hüte dich, Elloran, alle in dieser Burg spielen das spiel, manche offen und viele versteckt. Und du – du bist wahrscheinlich die reizvollste Figur dabei.« Sie lachte über mein Gesicht und fügte hinzu: »Natürlich gehöre auch ich zu den Spielern: also vertraue mir besser nicht! Ich lüge ohnehin, wenn ich nur den Mund aufmache.«
An diesem Paradoxon ließ sie mich nun eine Weile herumknabbern und kramte unterdessen in einer großen Truhe. Ich hörte ihren befriedigten Seufzer und sah, wie sie einen kleinen, silbernen Spiegel aus einem dünnen, roten Tuch wickelte. Sie kam damit zu mir und setzte sich mir gegenüber. Ich verdrehte die Augen. Spiegelmagie! Wenn das Julian sehen könnte! Leonie sah mich spöttisch an und wandte dann den Kopf, um den Raben auf ihrer Schulter anzusprechen.
»Geh jetzt. Du weißt, daß ich mir nicht gerne bei der Arbeit zusehen lasse.« Der Vogel spreizte beleidigt seine Flügel, gehorchte aber. Mit einem schrillen Krächzen flog er elegant durch den schmalen Fensterspalt und war fort. Leonie lächelte wieder und murmelte: »Er hält ohnehin nichts davon.« Ich wußte genau, wen sie meinte. Sie hielt mir den Spiegel vor, und ich sah widerwillig hinein. Fast erschreckte mich der Anblick. Ich hatte seit meiner Abreise aus Salvok keinen Spiegel mehr zu Gesicht bekommen und war überrascht über das, was ich erblickte. Das Kind, das ich bis zu meiner Erkrankung im letzten Winter gewesen war, war fast verschwunden, ein junger Erwachsener schien mich anzublicken – aber war es ein Mann oder eine Frau? Beides und nichts von beidem; es war seltsam und ein wenig unheimlich. Hinter meinem Gesicht tauchte nun nebelhaft ein zweites, unbestreitbar weibliches auf, das mir über die Schulter zu blicken schien. Es war das Gesicht meiner Traumschwester, aber wieder hatte es den leeren, fast schwachsinnigen Ausdruck, den es auch bei seiner letzten Erscheinung gezeigt hatte. Ich bemerkte, daß Leonie beunruhigt an mir vorbeiblickte. Sie gab mir den Spiegel in die Hand und stand auf. Ich konnte im Glas sehen, wie sie zu der Gestalt trat und ihr sanft den Schleier vor das blasse Gesicht zog. Dann nahm sie sie bei den Schultern und führte sie aus dem Gemach. Ich hätte mich allzu gerne umgedreht, aber das Gewicht des kleinen Spiegels bannte mich unnachgiebig in meinen Sitz.
Die Zauberin kam zurück und nahm den Spiegel wieder aus meinen erstarrten Händen. »Sieh weiter hinein«, sagte sie leise. »Konzentriere dich jetzt auf den Klang deiner Stimme, wie du ihn zuletzt gehört hast. Siehst du etwas erscheinen?« Ich lauschte nach innen und hörte, wie ich mit Quinn sprach und mich von dem Schimmel Frost verabschiedete. Am Rande meines Blickfeldes flatterte etwas. Ich versuchte, es genauer zu betrachten. Ein kleiner brauner Vogel, eine Singdrossel, flatterte heftig von innen gegen das Glas des Spiegels und trachtete verzweifelt danach herauszukommen. Leonie nahm den Spiegel und drehte ihn behutsam zu sich hin. Auf ihrem Gesicht erschien ein Lächeln.
»Da haben wir sie ja«, murmelte sie und trug den Spiegel zum Tisch. Sie legte ihn vorsichtig ab, mit dem Glas nach oben, und breitete das rote Tuch darüber. Dann legte sie ihre Hände darauf und schloß die Augen. Unter ihren schlanken Fingern begann die Seide zu rascheln und sich zitternd aufzuwölben. Sie griff sanft darunter und holte den unscheinbaren
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