Ellorans Traum
Erschöpfung eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder aufschlug, war lichter Morgen. Ich lag an meine schlafende Freundin geschmiegt und rührte mich nicht, um sie nicht zu wecken. Die Bilder der vergangenen Nacht zogen an meinen Augen vorbei und machten mich frieren. Jenka zog mich enger an sich und murmelte schlaftrunken. Ich bemühte mich, Erleichterung zu spüren. Julian war tot, er würde mich nicht mehr bedrohen. Leonie – was war mit ihr? Ob Jemaina es geschafft hatte, sie ins Leben zurückzuholen? Jemaina – meine alte Vertraute Jemaina – war nun die Oberste Maga. Es erschien mir unfaßbar. Kein Gefühl der Erleichterung wollte sich einstellen. Konnte es denn wahr sein, daß ich um diesen furchtbaren Zauberer trauerte? War sein Einfluß auf mich etwa so stark gewesen, daß er sogar seinen Tod überdauerte?
»Nein!« entschied ich laut und heftig. Jenka schnaufte erschreckt und erwachte.
»W-was ist?« rief sie und wollte aufspringen, um nach ihrem Schwert zu greifen. Ich hielt sie zurück und bat sie um Vergebung. Sie setzte sich auf und fuhr sich durch die kurzen Locken, die nach allen Seiten abstanden. »Uuuuh«, gähnte sie herzhaft. »Warum bist du schon so früh wieder wach? Wir haben doch erst ein paar Stunden geschlafen.«
Ich lachte und zauste ihr Haar. »Ab heute brauche ich deine Bewachung nicht mehr«, neckte ich sie. »Wie wollen wir meiner Großmutter jetzt die Notwendigkeit erklären, ein Quartier zu teilen?«
»Und ein Bett«, warf sie grinsend ein und umarmte mich.
»Und ein Bett«, stimmte ich zu und verschloß ihre Lippen mit einem Kuß.
»Ruhe dich noch etwas aus«, schlug ich ihr dann vor, als ich ihre müden Lider bemerkte. »Ich b-bin schon zu wach, ich werde gehen und nach Leonie sehen.« Sie ließ sich in die Kissen zurückfallen und lächelte dankbar und schon wieder halb im Schlummer.
Ich fand Jemaina und Leonie so vor, wie ich sie verlassen hatte. Jemaina schien nicht geruht zu haben, aber sie saß straff und wachsam an Leonies Seite und hielt ihre reglose Hand. Leonie lag da wie tot. Aus ihren Augen rannen noch immer Tränen. Ich setzte mich stumm zu ihnen und sah auf das blinde Gesicht.
»Wird sie es schaffen?« fragte ich flüsternd. Jemaina sah mich an, und ich erschrak über ihren hoffnungslosen Blick.
»Ich weiß es nicht«, hauchte sie. »Ich denke, sie will nicht mehr zurück. Sie weint um ihn. Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß sie gegen ihn kämpft – aber wir hätten ihn ohne sie niemals besiegen können. Julian war der stärkste Magier, den das gemischte Blut je hervorgebracht hat.«
Ich legte meine Hand auf die beiden ineinander verschlungenen Hände auf der Bettdecke. Leonie , flehte ich stumm, komm zurück! Ich brauche dich doch – ich liebe dich! Bitte, laß uns nicht allein.
Wir saßen lange so da, in unsere Gedanken versunken. Endlich seufzte Jemaina und löste ihre Finger von Leonies schmaler Hand. Sie stand auf und streckte ihre verkrampften Glieder. »Komm, Elloran, gehen wir ein wenig hinaus auf den Altan«, schlug sie vor. »Was auch immer jetzt mit ihr geschieht, ich kann ihr nicht mehr dabei helfen. Sie muß es aus eigener Kraft schaffen.«
Die helle Morgensonne schien warm und freundlich auf den Steinboden. Wir setzten uns nebeneinander auf die niedrige Brüstung. Ich musterte aus zusammengekniffenen Augen die Heilerin, die ich nun schon mein Leben lang kannte. Sie erwiderte meinen Blick mit einem leisen Lächeln.
»Was siehst du?« fragte sie mit sanftem Spott.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich ehrlich. »Ich habe n-nie geahnt, daß du eine von ihnen bist.«
Sie lehnte den Kopf zurück an die sonnenbeschienene Wand, und ich sah die feinen Linien der Erschöpfung um ihre schwarzen Augen. Ihre Hände gruben in den tiefen Taschen ihres weiten Rockes und förderten ihre geliebte Pfeife zutage. Ich sah zu, wie sie sie mit flinken Fingern aus einem kleinen Lederbeutel füllte und dann in Brand setzte. Wie oft in meinem Leben hatte ich dieses vertraute Ritual beobachtet – und nie war mir aufgefallen, daß sie den Tabak ohne Hilfsmittel entzündete! Jetzt erinnerte ich mich der unzähligen Male, die ich den magischen Vorgang offenen Auges mitangesehen hatte, wobei mein Geist dennoch vollständig blind dafür gewesen war.
»J-Julian«, fragte ich. »Hat er es auch nicht gewußt?« Sie stieß einen Rauchkringel aus und schüttelte belustigt den Kopf. »Ich habe seinen Geist genauso ablenken können wie den deinen«,
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