Ellorans Traum
»Keine Sorge, Bürschchen. Ich bring dich schon rein in die Stadt. Wäre doch schade, wenn deine Großeltern umsonst auf dich warteten.«
Nach einer endlosen Spanne des Wartens, Vorrückens, Weiterwartens, die Senn uns zum Gaudium aller Umstehenden mit einer Auswahl seiner unanständigsten Lieder verkürzte, waren wir endlich auch an der Reihe. Der Wachsoldat, der auf uns zutrat, war schlecht rasiert und trug eine nicht sehr saubere und nachlässig geschlossene Uniform. Nikal wäre hochgegangen wie ein Feuerwerkskörper, wenn einer seiner Männer es gewagt hätte, seinen Dienst so anzutreten.
»Papiere?« fragte der Soldat gelangweilt. Senn reichte ihm einige zerfledderte, zusammengefaltete Blätter. Der Mann überflog sie und gab sie mit einem Nicken zurück. »Was transportierst du, und für wen ist deine Ladung bestimmt?« fragte er weiter. Während Senn antwortete, musterte ich die Umgebung. Ich wurde erst wieder aufmerksam, als der Soldat mich etwas fragte. Ich sah ihn hilflos an und hob die Schultern.
»Er ist stumm«, sagte Senn eilig. Einige Münzen wechselten unauffällig ihren Besitzer. »Mein Enkel Iakov, der Älteste von Hana, meiner zweiten Tochter.« Er begann, dem Soldaten meine gesamte Lebensgeschichte vorzulügen. Der Mann hob gequält die Hand und schnitt ihm das Wort ab. »Ihr könnt passieren!« Senn ließ den Karren anrollen. Ich legte meine Hand auf Senns Schulter und drückte sie dankbar. Er sah mich an, mit einem Ausdruck gelinder Verwirrung in den Augen.
»Er hat keinen Wegezoll verlangt«, sagte er überrascht. »Was soll der ganze Aufwand, wenn sie kein Geld von Leuten wollen?« Kopfschüttelnd sah er wieder geradeaus. »Wo soll ich dich denn nun absetzen?« fragte er nach einer Weile. Wir rollten durch eine enge Gasse im Gerberviertel. Ich hielt mir seit geraumer Zeit die Nase zu und wedelte unbestimmt mit meiner freien Hand. Er lachte polternd.
»Hauptsache, nicht hier, richtig? Keine Angst, dein empfindliches Näschen wird keinen bleibenden Schaden davontragen. Gleich sind wir am Markt. Weißt du, wo deine Großeltern wohnen?« Ich nickte. »Findest du alleine hin?« Ich bejahte wieder. »Gut, dann setze ich dich am Markt ab. Ist dir das recht?« Mir war alles recht, wenn nur dieser infernalische Gestank endlich aufhörte.
Kurz darauf erreichten wir den Marktplatz. Der umfaßte schätzungsweise die Fläche von Burg Salvok – samt Dorf und Weiher. Ich glotzte schon wieder wie ein Schaf in die Runde. Wenn die Kronenburg ähnlich gigantische Ausmaße hatte wie diese Stadt, dürfte es einige Zeit in Anspruch nehmen, meine Großmutter dort ausfindig zu machen. Vor allem – und jetzt wurde mir heiß und kalt vor Schreck – wo noch immer kein einziges Wort über meine Lippen kommen wollte.
Senn ließ mich absteigen und reichte mir seine riesige Pranke zum Abschied. »War nett mit dir, Bürschchen. Endlich mal einer, der mir zugehört hat, ohne mich ständig zu unterbrechen!« Unter seinem dröhnenden Gelächter entfernte sich der Karren, und ich stand mitten auf dem riesigen, wimmelnden Platz.
Ziellos ließ ich mich treiben, mitgezogen von der sich drängenden, schiebenden Menge. Die Rufe der Händler, die ihre Waren anpriesen, das Schwatzen und Lachen und Schimpfen der Schaulustigen, darüber das pausenlose Brüllen, Meckern, Gackern und Schreien der zum Kauf angebotenen Tiere, all das schlug über mir zusammen, vermischte sich mit tausend Gerüchen, angenehmen und solchen, die die Nase beleidigten. Exotische Gewürze, Blut und Stallmist, gebratenes Fleisch, ungewaschene Körper, menschlicher und tierischer Urin, Duftwässer und Blumen, frische Früchte, faulende Abfälle ... mir wurde schwindelig unter diesem Ansturm von Gerüchen, Farben und Geräuschen. Mein Magen begann zu protestieren und erinnerte mich daran, daß ich heute außer einem eher symbolischen Frühstück und sehr viel Wasser noch nichts zu mir genommen hatte. Ich kramte in meinem Beutel und zählte meine Barschaft. Es war nicht viel, aber für eine Mahlzeit und ein oder zwei Übernachtungen in einem billigen Gasthof sollte es eigentlich reichen. Ich sah mich auf dem Platz um und ließ mich schließlich von meiner Nase führen. Am Stand einer rundlichen, unordentlichen Raulikanerin erstand ich einen großen Napf mit dickem Eintopf und dazu ein noch ofenwarmes Fladenbrot. Ich zog mich auf ein niedriges Mäuerchen zurück und verschlang gierig das heiße, wohlschmeckende Essen. Dann wischte ich gesättigt den Napf
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