Elsa ungeheuer (German Edition)
mit einer Laubsäge.
Es war das Wochenende, bevor die Schule wieder anfing. Die letzten Tage, die wir am See verbringen konnten. Lorenz’ Geduld war wie üblich schon nach kurzer Zeit erschöpft. Also wartete ich allein auf Elsa. Einfach zum Haus der Gröhlers zu gehen, traute ich mich nicht. Zu groß war meine Angst, von Elsa zurückgewiesen zu werden.
Ich lehnte am Brückengeländer, die Augen auf die Straße gerichtet. Der Mühlbach rauschte leise. Grillen zirpten. Ein Radio spielte Das alte Lied, und zwei Hunde bellten.
Dann kam der graue Audi der Gröhlers angefahren und hielt auf dem Parkplatz des Jagdhofs. Hubertus stieg aus. Er öffnete die hintere Tür. Zuerst dachte ich, es wäre Elsa, aber er zerrte nicht an einem Mädchenarm, sondern am Griff eines riesigen Koffers.
Die alte Wiesinger eilte herbei und dirigierte ihren beladenen Ex-Schwiegersohn in das geschlossene Wirtshaus. Ehe ich auch nur eine Vermutung über den Inhalt des Koffers anstellen konnte, wurde meine Aufmerksamkeit zum anderen Ende der Straße gelenkt. Schreie, nein, ein einziger langer Schrei übertönte alle Geräusche dieses Spätsommernachmittags, übertönte das Klappern ihrer Holzclogs. Elsa rannte. Elsa schrie. Wenige Meter hinter ihr tauchte Gustav auf. Auch er rannte. Nacheinander erreichten sie den Jagdhof. Und dann rannte ich.
Die Stühle waren hochgestellt, der Boden frisch gewischt. Hubertus saß auf einem Barhocker am Tresen und sah einfach sehr müde aus. In der Mitte des Raumes stand der Koffer. Elsa kniete davor und umklammerte ihn, während die alte Wiesinger und Gustav versuchten, das Mädchen und das lederne Ungetüm voneinander zu trennen.
»Es sind meine Sachen. Sie hat sie mir geschenkt. Sie hat sie mir geschenkt!«
»Elsa, sei vernünftig. In den Ferien kannst du meinetwegen in den Kleidern deiner Mutter durch die Gegend laufen, aber so gehst du mir nicht in die Schule, und jetzt lass los. Lass los, habe ich gesagt.«
Doch sie ließ nicht los, sondern fing wieder an zu schreien.
Die Ader auf Gustavs Stirn pulsierte. Er riss so fest an dem Griff, dass der Koffer samt Elsa über den Boden schlitterte. Ich konnte sehen, wie sich ihre nackten Knie rot färbten. Die Vorstellung, dass Elsa Schmerzen empfand, war unerträglich. Ich stürzte zu ihr hin, warf mich mit meinem ganzen Gewicht auf den Koffer und schrie.
Gustav und die alte Wiesinger wichen einen Schritt zurück und starrten uns fassungslos an.
Die erste Schlacht war geschlagen, ja gewonnen, aber weder Elsa noch ich wussten, was als Nächstes zu tun war, und so schrien wir einfach weiter.
Wenn der eine Luft holen musste, brüllte der andere umso lauter. Doch wie lange würden wir durchhalten? Wann würden unsere Kehlen zeitgleich versagen?
Das Murmeltier erlöste uns. Elsa und ich hatten ihn nicht kommen hören. Wie auch? Erst als er mit seinen Krücken gegen den Koffer trommelte, bemerkten wir ihn. Die Spannung wich aus unseren verkrampften Körpern.
Es war still.
»Danke«, seufzte Hubertus und legte seinen Kopf auf den Tresen.
»Sie wollen mir meine Sachen wegnehmen«, sagte Elsa mit heiserer Stimme.
Sogleich erläuterte Gustav, sekundiert von der alten Wiesinger, den Sachverhalt aus seiner Perspektive.
»Aber es sind Elsas Sachen. Ihre Mutter hat sie ihr geschenkt«, unterbrach ich die Ausführungen von Onkel und Oma.
Die alte Wiesinger stöhnte. »Das ist ja wie bei den Kommunisten!« Wenn etwas wie bei den Kommunisten war, dann war es schlimmer als schlimm. »Herr Murmelstein, was soll man da machen? Sagen Sie doch was! Na? Was soll man machen?«
Frau Wiesinger hatte das Murmeltier in die Rolle des Schlichters gedrängt. Der Koffer wurde geöffnet und jedes einzelne Kleidungsstück auf seine Schultauglichkeit überprüft. Geschickt argumentierte das Murmeltier einmal für uns, dann wieder für die Gegenseite.
»Aber Herr Gröhler, in Paris tragen schon sechsjährige Mädchen solche Blusen.«
»Sie waren in Paris?«, fragte Gustav interessiert.
»Viele Jahre.«
Nur Elsa und ich wussten, dass das Murmeltier flunkerte. Alles, was er während seines kurzen Aufenthalts in Paris gesehen hatte, waren Julies Riesenbrüste.
»Pariser Mode… Mathilde hat halt einen erlesenen Geschmack«, mischte sich die alte Wiesinger ein. Und so durfte Elsa die nachtblaue Taftbluse behalten.
Am Ende hatten wir den Inhalt auf drei Stapel verteilt:
Sachen, über die Elsa frei verfügen konnte.
Kleider, die Elsa nur am Wochenende anziehen durfte – es sei
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