Elsa ungeheuer (German Edition)
nie gegeben, außer in meiner Phantasie. Sie war ein Schatten, eine Märchengestalt, deren Geschichte längst geschrieben stand. Ich nahm Abschied von ihr.
Im Mai 1999 hatte Brauer das zweite Motiv der Ewigkeit fertiggestellt, und ich durfte zum ersten Mal sein Atelier betreten.
Während Irina und Vera in New York weilten, wo in wenigen Tagen vierzehn Gemälde der Graham-Sammlung (deutsche und niederländische Impressionisten) zusammen mit der ersten Jahreslizenz versteigert werden sollten, stand ich staunend vor dem Werk meines Bruders.
Inmitten einer Feuersbrunst sechs Gestalten. Drei Tiere, an einen Baum gefesselt, der seine langen Äste – sie erinnerten an Frauenarme – schützend um sie legt. Ein Mann auf Knien und zwei Kinder, einander gegenüberstehend.
»Das ist die Sterblichkeit «, sagte Lorenz. »Damals im Wald habe ich begriffen, dass ich sterben kann.«
»Das Ende der Welt«, flüsterte ich.
»Was?«
»Es ist überwältigend.«
»Danke.«
»Und was befindet sich unter der Sterblichkeit ? Was kommt davor?«
Er lächelte.
»Los, verrate es mir.«
»Der Grund für alles.«
»Der da wäre?«
Lorenz legte seinen Arm um mich. »Ich bin Maler, kein Dichter, kein Held«, sagte er.
Vera rief wenige Minuten nach der Auktion an und teilte uns mit, dass ein anonymer Bieter den Zuschlag für die Jahreslizenz erhalten hatte. Für 120 000 Dollar.
»Es ist wahr«, schrie Lorenz, als er aufgelegt hatte. »Ich bin… ich bin…« Er suchte nach Worten.
»Ein Maler?«
»Ja. Aber es ist wirklich. Verstehst du? Irina hatte recht, ich brauchte nur ein wenig Starthilfe. 120 000 Dollar. Jemand bezahlt 120 000 Dollar für… Ich bin…«
Das symbolische Zertifikat – ein Rahmen aus Elsbeerholz, 363 Zentimeter hoch und 473 Zentimeter breit, mit einer Plakette am unteren Rand: Mai 1999–Mai 2000 – wurde nach New York verschifft. Das Artfact Magazine, mittlerweile Brauers Haus- und Hofzeitschrift, hielt das Ereignis in Wort und Bild fest.
Auf die Frage, was Lorenz dem ersten Käufer gerne sagen würde, lachte er. »Zeig dich! Ich will wissen, wem ich zu danken habe.« Es klang bescheiden und überheblich zugleich.
Die Damen kehrten aus Manhattan zurück. Vera blieb bei Lorenz im Rheinland. Mir wurde die zweifelhafte Ehre zuteil, Mrs. Graham nach Den Haag zu begleiten. Die New-York-Reise hatte die alte Dame ausgelaugt, sie sehnte sich nach Ruhe und nach Andromeda.
Trostlos wirkte der dunkelbraune Erdgarten im Sonnenschein. Ich fragte mich, was danach kommen würde. Das Paradies hatte dem englischen Rasen weichen müssen, das Gras der nackten Erde. Vielleicht würde sie Jaap ein Loch graben lassen. Ein Loch bis zum Ende der Welt.
»Wir frühstücken morgen um 9.30 Uhr, anschließend fahren wir ins Mauritshuis. Und sorg dafür, dass der Gärtner mich in den nächsten Tagen nicht stört. Er redet zu viel.«
»Jaap?«
»Ich habe nur einen Gärtner. Gute Nacht.«
»Es ist erst fünf.«
»Gute Nacht.« Abseits der Graham-Mirberg-Show hielt sie übermäßige Freundlichkeit für verzichtbar.
Ich klopfte an Jaaps Häuschen, er umarmte mich wie den verlorengeglaubten und wieder heimgekehrten Sohn, füllte Tassen mit Kaffee, Gläser mit Schnaps und Bier. Er schien so aufrichtig glücklich über die Nachricht, dass Mrs. Graham wieder da war und auch ich einige Wochen bleiben würde, dass mir die Bitte nur schwer über die Lippen kam, er solle vorläufig von Besuchen im Haupthaus absehen. »Sie ist sehr müde«, sagte ich.
Er nickte verständnisvoll. »Lässt Sie mir denn irgendetwas ausrichten?«
»Was soll… Grüße. Herzliche Grüße.«
»Und meine Briefe, hat sie nichts gesagt?«
»Nein. Was für Briefe?«
»Der Garten… Ich habe sie um die Erlaubnis gebeten, Kartoffeln pflanzen zu dürfen. Der Rasen hat schon nicht viel Arbeit gemacht, aber jetzt habe ich gar nichts mehr zu tun. Und es sieht nicht schön aus, oder?«
»Nein.«
»Kannst du sie vielleicht fragen, also nicht heute, aber bei Gelegenheit?«
»Klar. Kartoffeln, ja?«
»Kartoffeln«, sagte er schüchtern.
Der Taxifahrer verstaute den Rollstuhl im Kofferraum. Auf ein einsilbiges Frühstück folgte eine stumme Autofahrt.
»Bring ihn mit dem Aufzug nach oben« war der erste vollständige Satz, den Mrs. Graham an diesem Tag an mich richtete.
Sie stieg die Treppe hoch, ich nahm den Lift.
»Hat sie sich verändert?«, fragte Irina, während ich den Rollstuhl auseinanderklappte.
»Nein.«
Ohne das
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