Elsa ungeheuer (German Edition)
erkrankt oder verletzt wird, beispielsweise durch eine Gewehrkugel, und aus der Formation ausfällt, verlassen zwei weitere Gänse die Schar und folgen ihr, um ihr zu helfen…«
»Denkst du dir das gerade aus?«, unterbrach mich Mrs. Graham.
»Nein, das steht hier.« Ich gab ihr das Buch.
Sie hielt es sich nah vors Gesicht. Nur mit Mühe konnte sie die gedruckten Buchstaben entziffern.
»…verlassen zwei weitere Gänse die Schar und folgen ihr, um ihr zu helfen und sie zu beschützen. Sie bleiben so lange bei dem geschwächten Tier, bis es entweder wieder fliegen kann oder stirbt.« Irina klappte Die Welt der Graugänse zu. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Karl, sag dem Hausmädchen, dass ich zum Abendessen Gänsestopfleber wünsche. Und jetzt lass mich allein.«
Einige Tage später brachte ich Jaap die Reste vom Abendessen. Ich lüftete die Speiseglocke. »Bitte der Herr, Gänsestopfleber mit Verjus.«
»Mein Herz wird verfetten, wenn das so weitergeht«, sagte er. Obwohl Mrs. Graham von der schweren Speise Sodbrennen bekam, verlangte sie ständig nach Foie gras.
Jaap seufzte, nahm einen Bissen. »Und wenn ich an die armen Tiere denke… sie stehen Qualen durch.« Er ließ die Gabel auf den Teller sinken.
»Tja, Mrs. Grahams persönliche Rache an den Graugänsen, die gewagt haben, ihr Herz zu berühren.«
»Was?«
»Ach nichts.«
»Hast du sie eigentlich mal gefragt wegen der Kartoffeln?«
»Nein, tut mir leid.«
»Nicht schlimm. Ich habe mich ein bisschen schlaugemacht. Frühestens im April kann man sie setzen, das wusste ich vorher nicht. Ich dachte ja nur, wenn der Garten schon nicht schön sein darf, dann vielleicht wenigstens nützlich. Da hinten stehen zwei Holzkisten voll mit gekeimten Kartoffeln, die kann ich jetzt wegschmeißen, die halten nicht bis April. Falls Mrs. Graham es überhaupt erlaubt.«
»Komm, Jaap, lass sie uns pflanzen.«
Er schüttelte den Kopf. »Aber das ist sinnlos und Mrs. Graham…«
»So vieles ist sinnlos… Nennen wir es einen symbolischen Akt. Wir ärgern Mrs. Graham ein bisschen, sie wird es wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Los…«
23 Gläschen Graanjenever später schleppten wir die Holzkisten und eine zweite Flasche Schnaps in den Garten. Mit bloßen Händen lockerten wir die Erde.
»Für die Graugänse!«, sagte ich lachend. Ich nahm einen Schluck und reichte Jaap die Flasche.
»Für die Graugänse!« Er lachte ebenfalls und trank.
Plötzlich reckte Jaap seine Faust zum Himmel. »Für die Graugänse.« Tiefer Ernst klang in seiner Stimme.
»Ja, für die Graugänse«, sagte ich feierlich.
Schwitzend zogen wir Furchen in den Boden. Wenn sich unsere Blicke trafen, nickten wir einander zu, gleich Verschwörern. Das war kein dummer Streich, sondern eine Rebellion. Als die letzte Knolle in der Erde verschwunden war, fielen wir uns in die Arme und weinten wie kleine Kinder.
Zweihundert Kartoffeln waren vergraben – begraben, denn sie würden niemals blühen. Aber ich hatte das Gefühl, etwas von Bedeutung getan zu haben.
Meinen Vorschlag, ein anderes Buch zu holen, lehnte Mrs. Graham entschieden ab.
Kapitel 12, ›Das Paarungsverhalten‹, übersprang ich aus Furcht, allein der erste Satz, »Graugänse bleiben sich ein Leben lang treu«, könnte Irina dazu bewegen, eigenhändig ein paar Gänse zu stopfen.
Tage vergingen, Wochen vergingen.
Mrs. Grahams Gesundheitszustand besserte sich nicht. Nur selten und mit fremder Hilfe konnte sie ihr Bett verlassen. Die außerirdischen Klänge wurden häufiger.
Ich war zufrieden in dem Haus der alten Dame. Die Stunden plätscherten dahin. Oft lag ich, wie einst Vera, die ganze Nacht zugedröhnt in der Badewanne. Großartige Ideen und Gedanken schossen mir durch den Kopf, die ich leider allesamt sofort wieder vergaß.
Ich bemerkte, dass Angst wasserscheu war und Badewannen mied. Die aufziehenden Morgenstunden, in denen man die Rechnung für genossene Leichtigkeit begleichen musste, schienen in dem kühlen Wasser wesentlich erträglicher als in weichen Betten.
Mitte September, zu ungewohnt früher Stunde, meldete sich Vera. »Karl, mach den Champagner auf. Mirberg hat versucht, sich umzubringen«, hallte ihre Stimme triumphierend am anderen Ende der Leitung. Im Hintergrund das Lachen meines Bruders.
»Ist er tot?«
»Nein. Versucht! Hör mir doch richtig zu.«
Seit Brauers Geburt war Mirberg in der Versenkung verschwunden – sein missglückter Suizid das Erste, was wir von ihm
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