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Elsa ungeheuer (German Edition)

Elsa ungeheuer (German Edition)

Titel: Elsa ungeheuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Rosenfeld
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Bild aus den Augen zu lassen, setzte sie sich hin.
    »Und keiner ist gekommen, um Andromeda zu befreien.«
    »Sieht ganz so aus.«
    »Die traurigsten Geschichten der Welt, mein Junge, enden mit ›nie‹.«
    Ihr Kopf sank auf die Brust. Seltsame Laute entwichen ihrer Kehle. Es klang, wie man sich als Kind die Sprache von Außerirdischen vorstellte.
    »Mrs.   Graham? Mrs.   Graham? Alles in Ordnung?«
    Sie hob eine Hand. Warte! Bleib! Halt den Mund!, schienen ihre Finger zu befehlen.
    »Bring mich nach Hause«, sagte Irina schließlich leise. »Mir geht es nicht gut.«
    »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
    »Nein.«
    Sie wollte keinen Arzt, sondern heiße Schokolade und ein wenig Gesellschaft. Ich hockte auf einem unbequemen Stuhl neben ihrem Bett. Mehr Einrichtungsgegenstände gab es nicht in Irinas Schlafzimmer. Bett und Stuhl waren aus rötlichem Holz gefertigt, so schmal und klein, dass sie an Kindermöbel erinnerten. Der Kakaoduft und Mrs.   Grahams zierliche Gestalt verstärkten den Eindruck, am Krankenlager eines Kindes zu wachen und nicht an dem einer alten Frau.
    Bevor ich Irinas Ruf gefolgt war, hatte ich mich zugedröhnt und mit dem Hausmädchen geschlafen, immer noch die weizenblonde, stämmige Person, die vor langer Zeit zwei Brüder und Elsa die Treppe hochgeleitet hatte.
    Angenehm berauscht und bestrebt, die gebrechliche Dame zu unterhalten, erzählte ich ihr die Geschichte vom Herzen des Murmeltiers. Aber alles geriet durcheinander. Concettas Riesenarsch, und nicht das Herz des Murmeltiers, tanzte eine Habanera.
    »Genug, genug, Junge, ich verstehe kein Wort«, unterbrach sie mich und nippte an ihrer Schokolade.
    »Mrs.   Graham, waren Sie eigentlich schon bei Lorenz? Haben Sie das zweite Motiv gesehen?«, wechselte ich das Thema.
    Irina schüttelte den Kopf.
    »Sie sollten hingehen.«
    Keine Antwort.
    »Ist Ihnen eigentlich vollkommen egal, was er macht?«
    »Habe ich jemals etwas anderes behauptet?«
    »Nein, aber man scheint Brauer zu schätzen. 120   000   Dollar, das ist nicht wenig. Und Ihre Rede bei der Ausstellungseröffnung klang verdammt überzeugend. Sie müssen Mirberg wirklich hassen.«
    Irina schloss ihre Augen. »Sie war achtzehn Jahre, vier Monate und einundzwanzig Tage alt, als…« Sie stockte und brach ab.
    »Als was?«, hakte ich nach.
    Mrs.   Graham schüttelte den Kopf. »Genug. Ich hasse Mirberg und Punkt.«
    Irina fühlte sich auch die nächsten Tage zu schwach, ihr Schlafzimmer zu verlassen. Ich verbrachte meine Zeit abwechselnd bei ihr und Jaap oder schlenderte durch das riesige Haus und öffnete wahllos Türen. Ab und zu traf ich Patrice in der Stadt, um meinen Medizinvorrat aufzufüllen, und jeden Nachmittag schlief ich mit dem Hausmädchen – das wahrlich kein Mädchen mehr war, sie hatte die vierzig schon überschritten. Ich mochte sie, mochte die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Kleider ablegte, sich hinlegte und die Beine öffnete.
    Mrs.   Graham und ich sprachen weder über Mirberg noch über meinen Bruder, nicht über die Kunst und nicht über ihre Vergangenheit. Ein stillschweigendes Abkommen. Um uns aber vor Stille und Schweigen zu bewahren, las ich ihr aus einem Buch über Graugänse vor. Ich hatte es nicht aus Irinas Bibliothek genommen, sondern in einem der vielen unbewohnten Zimmer gefunden. Dort lag es allein und verlassen auf einer Fensterbank.
    Manchmal stieß Mrs.   Graham wieder diese außerirdisch anmutenden Töne hervor. Oft geschah es mitten im Satz, ihr Mund konnte die Worte einfach nicht mehr formen. Es war beängstigend, doch sie verbot mir, einen Arzt kommen zu lassen.
    »Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte ich Irina. In einer Hand hielt ich das Buch, in der anderen eine Tasse Kakao.
    »Kapitel 6. ›Der Flug der Graugans‹.«
    Ich reichte ihr die heiße Schokolade und begann zu lesen.
    »Indem eine Gans die Flügel schlägt, erzeugt sie einen Auftrieb für das Tier direkt hinter sich. Die V-Formation erlaubt es dem Schwarm, bis zu 71   Prozent weiter zu fliegen, als dies jedem Vogel einzeln möglich wäre. Eine Gans, die aus der Formation ausbricht, bekommt auf einmal die Belastung und die Mühsal zu spüren, die es bedeutet, allein weiterzukommen.
    Wenn die Führungsgans ermüdet, reiht sie sich weiter hinten ein, und eine andere Gans übernimmt ihren Platz.
    Die Gänse am Schluss der Formation geben Signallaute von sich, um die zuvorderst fliegenden Tiere zu ermutigen, die Geschwindigkeit zu halten. Wenn eine Gans

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