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Elsa ungeheuer (German Edition)

Elsa ungeheuer (German Edition)

Titel: Elsa ungeheuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Rosenfeld
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ihn vor der Leere, die unbeantwortete Fragen hinterlassen, zu bewahren.
    »Und wie lange dauert das dann, bis man da ist?«
    »Puh, lass mich rechnen. 49   Stunden. Ja, 49… Bist du Frenzens Neffe?«
    »Nee, Jonas. In der Kiste liegt Onkel Martin.«
    »Martin ist dein Onkel?«
    »Ja.«
    »Also bist du der Neffe?«
    Er lachte. »Nee, Jonas.«
    »Jonas. Du heißt Jonas?«
    »Sag ich doch.«
    »Soll ich dir was verraten, Jonas?«
    Der Junge nickte, seine bebrillten Augen fixierten meine Lippen.
    »Onkel Martin fährt nicht zur Hölle. Zum Schluss hat er an den Himmel geglaubt. Er hat extra eine ganze Menge italienisches Geld eingesteckt, damit er für sich und den Krebs Einhörner kaufen kann.«
    »Ja«, flüsterte das Kind, und dann ein wenig lauter: »Jaaaaaaaaaaaaa!«
    Eine weibliche, ältere Version des Jungen rauschte auf uns zu. »Jonas, du kannst nicht einfach weglaufen und fremde Leute belästigen! Dein Onkel ist tot. Wir sind alle traurig. Das ist kein Spielplatz, sondern ein Friedhof.«
    Ihre verbitterten Gesichtszüge verrieten, dass sich nicht viele Menschen bemüht hatten, ihre Fragen zu beantworten. Sie packte Jonas am Arm, schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln und führte ihren Sohn ab.
    Keine fünf Minuten später kam sie zurück, ohne das Kind.
    »Verzeihen Sie bitte, dass ich noch einmal störe, aber woher haben Sie Massimo?«
    »Wen?« Sie deutete mit ihren langen Fingern auf den Hund.
    »Das ist nicht Massimo, das ist Windspiel.«
    »Ich weiß, dass es ein Windspiel ist. Wir haben M-a-s-s-i-m-o«, sie betonte den Namen überdeutlich, »meinem Bruder zum Geburtstag geschenkt. Er lag in seinem Körbchen, plötzlich war er weg. Und jetzt steht er hier.«
    »Das ist nicht Massimo, das ist Windspiel«, wiederholte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
    »Junger Mann, das ist Diebstahl.«
    Panik ergriff mich. Ich schnappte mir Windspiel und rannte los. Klaute den Hund ein zweites Mal.
    Ihr Wutschrei hallte durch das Fabrikgebäude. Markerschütternd.
    Am 2.   2.   2000 war eine Sonderausgabe des Artfact Magazine erschienen. Betitelt: ›200   x   100‹.
    Zweihundert Ranking-Listen. Konventionelle Kategorien wie Die hundert einflussreichsten Künstler , Die hundert bedeutendsten Kunstwerke, Die hundert teuersten Gemälde wechselten ab mit Listen, die einen Hauch von Boulevard verströmten: Die hundert suizidgefährdetsten Künstler. Die hundert humorvollsten Künstler. Die hundert bestaussehenden Künstler. Brauer landete hier auf Platz zwei, hinter Neo Rauch.
    Vera war außer sich, dass der Name meines Bruders einzig und allein in dieser lächerlichen Sparte auftauchte und dort nicht einmal den Spitzenplatz belegte. Sie packte ihren Koffer und fuhr nach Den Haag.
    Eine Woche blieb Vera bei Mrs.   Graham.
    Windspiel und ich verbrachten jene sieben Tage auf dem Bärenfell und sahen Lorenz beim Fertigstellen der Erkenntnis zu.
    Manchmal lagen wir zu dritt dort. Ein gestohlenes Tier und zwei Brüder, die nicht allein waren, weil sie einander hatten. Die blaue Bluse aus dem Lande Oz hatte Windspiel in tausend kleine Fetzen gerissen. Elsa wirbelte durch die Luft, durch meine Gedanken.
    In der letzten Nacht ohne Vera klopfte mein Herz so rasend schnell, dass ich glaubte, es würde jeden Moment meinen Brustkorb sprengen. Schweiß, nicht Perlen, sondern Bäche, rann über meinen Rücken, strömte aus den Kniekehlen. Lorenz, der neben mir auf der Bärenhaut eingeschlafen war, erwachte und knipste das Flutlicht an, das die werdende Ewigkeit beleuchtete. Sein Blick verriet, dass ich genauso elend aussah, wie ich mich fühlte. Ich bat um Wasser. Das Schlucken schmerzte, eine ständige Begleiterscheinung der Medizin, doch die Intensität war neu. Tränen schossen mir in die Augen.
    »Ich bring dich ins Krankenhaus«, sagte Lorenz.
    »Nein, nein. Geht schon wieder. Hilf mir mal hoch.« Ich stand. Ich konnte stehen. Wer stehen kann, lebt. »Lass uns ein bisschen gehen, ja?«
    Lorenz legte meinen Arm um seine Schulter.
    »Wohin?«, fragte er.
    »Einfach im Kreis.«
    Windspiel trottete hinter uns her.
    »Karl?«
    »Ja?«
    »Du musst das in den Griff kriegen, du übertreibst.«
    Ein Lachen löste sich aus meiner wunden Kehle. »Und du nicht? Du nicht? Wir sind mittendrin, Lorenz. Das sind die Stürme des Lebens. Willkommen.«
    Später, als es bereits dämmerte, gingen wir nach oben, jeder in sein Zimmer. Stein und Spiegel. Ich schnupfte hier und wusste, dass mein Bruder nebenan genau das Gleiche tat.
    Lorenz

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