Elsas Küche: Roman (German Edition)
sie die Achseln und sagte, dann würde sie eben heulen. Nur dieses eine Mal . Aber nachdem er angefangen hatte, von seiner verstorbenen Gefährtin zu erzählen, begann er zu weinen und schüttete ihr sein Herz aus, und schon bald – komisch, dachte er Jahre später, aber dafür brauchte es anscheinend nicht viel –, schon bald weinte sie ebenfalls – und genauso herzzerreißend. Und dann sah sie ihn an und sagte, während sie am Reißverschluss seiner Hosen zerrte, durch einen Tränenschleier hindurch: »Isabelle war der Name meiner Großmutter! Sie ist letzte Woche gestorben. Sie war immer so gut zu mir. Die Stola hat ihr gehört.«
Diese Übereinstimmung war für beide zu viel. Sie stürzten sich aufeinander, und sie riss ihm die Hose herunter. Sie versuchte, ihn auf ihr Bett zu zerren, und zu guter Letzt fiel er über seine Füße und auf ihren Rücken. Sie lag unter ihm eingeklemmt, umhüllt von seiner Körperfülle, die nur ihren Kopf und Rumpf frei ließ.
Der Kritiker schloss die Augen, fühlte die Pelzstola in seiner Hand, vergrub sein Gesicht darin, stellte sich vor, es sei das Fell seines geliebten Spaniels, und atmete tief ein. Er dachte an Isabelles schönes, rassiges Fell, das unter einer Vespa zerdrückt worden war, und weil er sie unbedingt retten wollte, weil er sich selbst unbedingt retten wollte, begann er instinktiv, alle Gedanken an den Tod aus der Welt zu rammeln. Er drückte die Stola innig an sich und verausgabte sich, bis ihm die Puste ausging, doch selbst dannrammelte er noch weiter, bis schließlich das letzte Fünkchen Hundeblickhoffnung verflogen war und er auf den Hüften unter ihm explodierte ... und er eins mit dem Universum wurde. Der Kritiker war ein, zwei Sekunden weg, dann aber sofort wieder da – nur dass er jetzt lächelte. Und zwar, weil die Frau unter ihm, eine nette, sanfte und einfühlsame Prostituierte, genau wusste, was er brauchte: Sie heulte wie seine kleine Isabelle! Genau so muss das Leben sein, dachte er. Er war mit ihr in Verbindung getreten! Er hatte jemanden gefunden, der zu seiner Beerdigung kommen würde!
Danach fühlte er sich besser und bot ihr 600 Euro für den Rest der Nacht. Sie heulten und explodierten immer wieder, bis er verstand, was Verständnis eigentlich war. Zwischendurch weinten sie, und zum Schluss schliefen sie eng umschlungen ein.
Am nächsten Morgen wurden sie vom Klingeln eines Handys geweckt. Es war seines, und er war überrascht, die Stimme seiner Schwester Gina zu hören.
»Wo bist du?«, fragte sie, und ihre zitternde Stimme verriet, dass sie ebenfalls geweint hatte. Sie musste erfahren haben, was mit Isabelle geschehen war. Ein paar gemeinsame Erinnerungen hatten sie ja – beispielsweise daran, wie sie alle in seinem Arrondissement spazieren gegangen waren und sie Isabelle ein Stückchen Butterbrot angeboten hatte. »Ich hab die ganze Nacht versucht, dich zu Hause zu erreichen.«
»Ich bin bei einem Freund«, sagte er und bereute es sofort. Gina kannte seine Vorliebe für Prostituierte und missbilligtesie. Das sagte sie ihm bei jeder passenden Gelegenheit. Einen Augenblick herrschte Stille. Er wartete auf ihre Schimpftirade, die jedoch ausblieb, denn etwas weitaus Größeres stand an, das eine weitere Krise in ihm auslösen sollte.
»Du musst noch heute nach Rom fahren«, sagte sie. »Mama ist gestorben.«
Der Kritiker fuhr so schnell aus dem Bett auf, dass die Ersatz-Isabelle gleich mit herausfiel.
»Was sagst du da?«, rief er. »Was hast du gerade gesagt?«
»Mama«, antwortete Gina. »Gestern Abend beim Essen hatte sie einen Schlaganfall. Wir haben die ganze Nacht im Krankenhaus verbracht.«
Der Kritiker schüttelte verwirrt den Kopf. Das konnte nicht wahr sein! Vor ein paar Tagen hatte er doch noch mit ihr gesprochen, und da ging es ihr gut. Sie hatte davon gesprochen, diesen Sommer zu kommen – und nächste Weihnachten! Er war einverstanden gewesen und hatte ihr versprochen, nicht zu hart zu arbeiten. Gestorben? Er murmelte Unverständliches vor sich hin, was der Ersatz-Isabelle Angst einjagte. Er fiel auf die Knie und heulte in seine Hände. Sein geliebter Hund! Seine geliebte Mama! Beide tot, innerhalb von vierundzwanzig Stunden gestorben. Der Kritiker drosch mit den Füßen auf den Fußboden ein. Er schrie und warf mit Kissen um sich.
Die Ersatz-Isabelle verstand allmählich, was geschehen war, und versuchte verzweifelt, ihren Besucher so schnell wie möglich loszuwerden, bevor er sich eine unschickliche Rolle für
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