Elsas Küche: Roman (German Edition)
Zigaretten und Brötchen zum Frühstück und eventuell um eine Tasse Kakao in einer Milchstube auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule. Es war ein Leben in matten Farben. Wer Ehrgeiz hatte und weiterkommen wollte, trat in die Partei ein, doch höchstwahrscheinlich hielt er den Mund und duckte sich. Man pflegte Hobbys wie Fotografie oder Tennis, oder man ging zum Bergsteigen oder hatte einen Garten und tauschte das, was zu viel war, gegen Dinge, die man brauchte. Wenn man besonders ehrgeizig war, klaubte man alles Entbehrliche zusammen und brachte es zur Genossenschaft oder auf den Wochenmarkt und bekam ein paar Münzen dafür. Alle waren ungefähr gleich – Ärzte, Rechtsanwälte, Müllmänner. Für sie alle war die Zeit stehen geblieben, seit die Sowjets 1956 mit Panzern eingerückt waren. So etwas wie Chancen gab es eigentlich nicht. Jedenfalls nicht, solange die Mauer noch stand. Das war zumindest die Version der Geschichte, die Dora gehört hatte. Als die Mauer fiel, warsie noch ein kleines Mädchen und ging in die Grundschule – sie hatte also keinen Vergleich und konnte nur wiedergeben, was ihr Vater ihr erzählt hatte. Für sie war alles Geschichte.
»Deine Generation hat Glück«, verkündete ihr Vater, als sie eines Abends vor dem Fernseher saßen und kopfschüttelnd mit ansahen, wie Hunderte von Kilometern entfernt die mit Graffiti bekritzelte Mauer fiel. Er beugte sich vor und berührte den Bildschirm, als wollte er hineinklettern und direkt nach Berlin gebracht werden. Er blickte sich nach Dora und seiner Frau um. Dann ging er im Zimmer auf und ab wie ein Tier im Zoo. Ein verschmitztes Lächeln breitete sich über sein Gesicht. Er war jemand, der immer irgendwie in Schwierigkeiten gewesen war. Er gehörte zu den Menschen, die eine Nase für Chancen hatten.
»Die Zukunft steht uns offen«, rief er. »Unglaublich! Einfach unglaublich! Wir können überall hingehen und alles machen. Nichts kann uns aufhalten! Herrlich.«
Damit begann der Aufschwung von Doras Familie.
Gleich am nächsten Tag ging er in den Heizungsgenossenschaftsbetrieb und verkündete seinen gereizten Vorgesetzten, dass er besser und schneller arbeiten könne und weder ihr lumpiges Gehalt noch ihre baufällige Firmendatsche in den Bergen brauche. Vielen herzlichen Dank , aber er gründe jetzt einen eigenen Betrieb und kaufe sich ein eigenes Holzhaus im Wald.
»Da lachen ja die Hühner«, glucksten seine Vorgesetzten. Mit diesem Burschen war es immer dasselbe: Er dachte, er wäre klüger als alle anderen. Er gehörte genau zu der Sorte, die das System hatte beseitigen wollen.
»Ich gründe einen Betrieb«, sagte Doras Vater. »Einbau und Reparatur von Heizungen, Wasserspeichern und Boilern,Installation von Bewässerungsanlagen auf dem Land. Ich tu, was mir gefällt!«
Seine Vorgesetzten winkten ab, aber er verabschiedete sich noch von seinen Freunden. Ein paar fragten, ob sie mitgehen dürften, und er sagte Ja. Zwar hatte er keine Ahnung, wie er sie bezahlen sollte, doch das würde schon irgendwie klappen.
Nach erfolgreicher Betriebsgründung verkaufte er ein paar Monate später den Familiensommergarten am Plattensee für einen stolzen Preis an einen Österreicher. Er hatte noch eine Idee und kaufte von dem Geld einen alten Schuppen in Délibáb, in der Nähe des Sees und der Universität. Dort eröffnete er die erste private Eisbude der Stadt. Als der Sommer kam und es immer heißer wurde, verdiente die Familie gut: Alle, die in den Park kamen, kauften Eis – Liebespärchen und junge Familien.
»Wer kann bei Eis widerstehen?«, sagte er.
Dora verkaufte mit ihrer Mutter Eis, und ihr Vater baute seinen Boilerbetrieb aus. Er verlegte sich auf Bewässerungsanlagen und übernahm dann noch eine ehemals staatliche Kartoffelchipsfabrik am Stadtrand. Er war der Einzige in der Gegend, der genügend Kapital hatte, und wurde so der erste und – für eine Weile – einzige Kartoffelchipsfabrikant im Land. Danach wurde die Wohnung verkauft, und man zog in eine renovierte Villa. Eine amerikanische Kartoffelchipsfirma bot an, sich einzukaufen. Doras Vater willigte ein und wurde noch reicher. Um etwas mit ihrer Zeit anzufangen, verkauften Dora und ihre Mutter immer noch Eis. Das Geldverdienen war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, und sie zählten zu den ersten landeseigenen Kapitalisten.
In den zehn kurzen Jahren seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs hatte Doras Vater so viel Geld verdient, dass nicht nur er, sondern auch die Enkel
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