Elsas Küche: Roman (German Edition)
Nichts als Luftspiegelungen, an die man nie herankam und die nie verschwanden. Zum Teufel damit!
Nun hatte der Kritiker kein Interesse, Philosoph zu werden – er beschloss jedoch, eine höhere Wahrheit zu suchen und ein freundlicherer und großzügigerer Mensch zu werden und das Beste aus seinen Tagen auf Erden zu machen. Auslöser für diese Suche war der Tod seines langjährigen Gefährten, seines geliebten, strubbeligen, übergewichtigen Spaniels namens Isabelle, der ein unerwartetes und gewaltsames Ende gefunden hatte. Der Hundesitter in Paris hatte die Hündin auf einen Spaziergang in die Rue Saint-Denis mitgenommen, wo sie von einer Vespa angefahren worden war. Der Kritiker wunderte sich, dass der Hundesitter seinen werten Begleiter in so einer zwielichtigen Gegend ausführte, weit weg von ihrem Zuhause in der Nähe vom Père Lachaise. Als er den verzweifelten Anruf bekam, war er gerade in Brüssel, wo er ein Restaurant inspizieren sollte. Er packte seine Sachen zusammen, checkte aus dem Hotelaus, nahm ein Taxi zum Bahnhof und stieg in den nächsten Schnellzug nach Paris. Als er im Erste-Klasse-Abteil saß, informierte er seinen Chefredakteur.
»Meine arme Isabelle«, schluchzte er, »mein Liebling!«
Der Redakteur sah auf die Uhr und fragte sich, wie lange er brauchen würde, um den Kritiker zu trösten. Er hatte den Hund immer gehasst und für ein überdrehtes kleines Scheusal gehalten, das bestenfalls wirre Vorstellungen über die eigene Wichtigkeit hatte: Der Hund glaubte, seinem menschlichen Besitzer und dessen gelegentlichen Besuchern ebenbürtig zu sein. Wenn es ganz schlimm kam, war er kaum besser als ein tollwütiges Nagetier. Der Hund glitt zwischen Phasen megalomanen Hochmuts und sabbernder Ohnmacht hin und her, und es ließ sich nie absehen, welche Seite seiner Tierpersönlichkeit man wann antreffen würde. Doch wusste der Chefredakteur, wie sehr der Kritiker das Tier liebte, und wollte ihm aus Mitgefühl etwas Nettes sagen.
»Fahren Sie jetzt erst mal nach Hause und sehen Sie nach dem Rechten«, schlug er vor. »Machen Sie sich keine Gedanken über den Restaurantartikel – wir verschieben den Erscheinungstermin. Nur Mut! Für kranke Tiere gibt es heute jede Menge Heilmittel.«
In der Tat hielt der Tierarzt Isabelle just in diesem Moment am Leben und wartete auf die nächsten Anweisungen. Er wusste, wie sehr Hund und Besitzer aneinander hingen, und verabreichte der Spanielhündin ein Aufgebot an Schmerztabletten, die ihr zumindest ein wenig Linderung verschafften. Als der Kritiker kaum vier Stunden nach dem Anruf in die Tierklinik kam, Koffer und Hut in der Hand und den Regenmantel über dem Arm, öffnete ihm der Tierarzt die Tür und geleitete ihn in ein Untersuchungszimmer,in dem Isabelle gerade »genese«, wie sich der Tierarzt euphemistisch ausdrückte.
Doch in Wirklichkeit hatte sich Isabelle das Rückgrat gebrochen. Die Wirbelsäule war durchtrennt, und die Hüftgelenke waren zertrümmert. Auf dem Röntgenbild sah man, dass ein Lungenflügel durchbohrt war. Trotz der Medikamente litt die Hündin starke Schmerzen und verblutete innerlich. Sie lag hechelnd und hilflos gurgelnd auf der Seite, und als sie hörte, dass der Kritiker sie beim Namen rief, und ihn dann in der Tür stehen sah, schöpfte sie Hoffnung. Um ihm zu gefallen, versuchte sie eifrig, ihn zu begrüßen, wie so oft in den letzten acht Jahren. Doch sie brachte nur ein erbärmliches Kratzen zustande, das ins Leere ging. Dabei zerknitterte sie das Papier auf dem Untersuchungstisch und machte sich nass. Bei ihrem Anblick wurde dem Kritiker flau. Er hatte das klamme Gefühl, sein Frühstück, bestehend aus zwei pochierten Eiern, einem Kaiserbrötchen, Johannisbeermarmelade und einer Tasse Kaffee, komme ihm hoch. Für Isabelle nahm er jedoch allen Mut zusammen. Er ließ seine Sachen fallen, streckte die Hand aus, kraulte Isabelles nassen Bauch und überlegte, ob er sie hochheben sollte.
»Sie leidet«, sagte der Tierarzt. »Ich kann ihr nicht mehr helfen. So leid es mir tut, aber wir müssen sie einschläfern.«
»Sie leidet?«, sagte der Kritiker und ging auf den Tierarzt los. Er packte ihn am Kittelkragen und hätte ihn fast ins Gesicht geschlagen. »Warum haben Sie das zugelassen?«
Die Assistenten des Tierarztes packten den Kritiker und zerrten ihn weg.
»Ich dachte, Sie wollten noch Abschied nehmen«, sagte der Tierarzt und brachte seinen weißen Kittel in Ordnung. »Ich habe ihr Schmerzmittel gespritzt, aber sie wirken
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