Elsas Küche: Roman (German Edition)
schon.« Das stimmte. Er wollte unbedingt arbeiten. Nach den Streitereien mit seiner Schwester in Italien war er zu dem Schluss gekommen, dass Lebenszweifel nur eine Form von Ichbezogenheit waren. Reiner Luxus also. Wenn er an seine Mama dachte, wurde ihm bewusst, dass er anders erzogen worden war. Sie hatte keine Geduld für Selbstmitleid gehabt. Deshalb hatte sie ihren Mann – seinen und Ginas Vater – verlassen, der sich mit Vorliebe leidtat. Hatte nach dem Krieg mit Freunden eine Bäckerei ausgeraubt und war erwischt worden – und zwar als Einziger –, weil er stehen geblieben war,um nicht nur ein Stück Sahnetorte zu essen, sondern noch eins und noch eins. Er konnte nicht mehr aufhören. Hinterher bereute er, dass er es ihr erzählt hatte. Wie saudumm von mir, sagte er immer wieder und weinte dabei.
Seine Frau war ganz seiner Meinung gewesen und hatte ihn hinter Gittern verrotten lassen. Genau deshalb wollte der Kritiker arbeiten, und keiner würde ihn aufhalten können. Doch als der Redakteur ihm den neuen Auftrag erteilte, protestierte er.
»Ich kann nicht«, sagte er zu ihm. »Diese Menschen haben mir in meiner dunkelsten Stunde schwer zugesetzt. Keinerlei Einfühlungsvermögen. Gierig wie Geier waren sie. Offen gestanden die ganze Region. Sie laufen Amok, grapschen nur noch. Außerdem bin ich nun mal auf Haute Cuisine spezialisiert! Auf die Gourmetküche. Sie müssen sich nach jemand anderem umsehen. Ich bin mir sicher, dass es sich nur um Bauernkost handelt! Seit Mama sich 1958 neu verheiratet hat, bin ich kein Bauer mehr.«
»Probieren Sie es doch einfach«, versuchte der Chefredakteur ihn zu überreden. »Sehen Sie sich’s an. Wir müssen etwas Neues machen. Ziehen Sie das Restaurant für die Silberne Suppenkelle in Betracht. Das wäre mal was anderes. Etwas Exotisches. Wir müssen mehr Leser bekommen – die Abonnentenzahlen sinken, und es heißt, die Zeitschrift sei spießig geworden.«
»Unsinn«, widersprach der Kritiker. »Ich hab meine Zweifel, dass Kommentare über osteuropäisches Essen das Papier wert sind. Was soll es da schon geben? Paprika wahrscheinlich. Zwiebeln. Sauerrahm. Bauernkost, sag ich Ihnen. Dieses Restaurant kommt unter keinen Umständen für die Silberne Suppenkelle in Betracht, und für ein Kurzporträt schon gar nicht.«
Doch der Chefredakteur blieb beharrlich. Er bot seinem Freund eine Urlaubsreise durchs Land an, bei der er Weingüter besuchen und speisen würde. Er bot ihm eine Rundreise nach Budapest und Umgebung an und eine Kreuzfahrt auf der Donau. Dazu musste er sich nur freinehmen und hinfahren – und in der Tulpe essen.
»Sie sind für den Sommer in ein Haus am See eingeladen. Sagen Sie zu!«
»Und wenn ich das Restaurant furchtbar finde?«, fragte der Kritiker. »Wie soll ich dann eine gute Kritik schreiben?«
»Ich möchte Sie doch nur davon überzeugen, dass eine Reise Ihnen gut täte«, sagte der Chefredakteur. »Sehen Sie etwas anderes, schmecken Sie etwas anderes, und danach machen Sie Urlaub. Sie haben eine Pause verdient. Sehen Sie sich das Kochinstitut an, gehen Sie in das Restaurant, und dann machen Sie Urlaub und finden neue Freunde.«
Der letzte Punkt besänftigte den Kritiker. Freunde. Menschen, die zu meiner Beerdigung kommen! Er dachte über das Angebot nach. Vielleicht ist es doch nicht so schlecht, dachte er. Ein völlig neuer Ort, an dem einen keiner kannte. Wenn er aufmerksam und einfühlsam war, würde er vielleicht einen Freund finden. Das wäre eine Reise wert. Zu Hause ohne Isabelle war er jedenfalls so einsam, dass er wirklich wegwollte.
»Schön, im Sommer«, ließ er sich erweichen. »Ich muss Sie jedoch warnen: Meine Besprechung wird vielleicht nicht allzu schmeichelhaft ausfallen. Das müssen Sie verstehen. Zu viel Paprika ist zu viel Paprika, da gibt es nichts zu deuteln.«
»Ja, ja«, sagte der Chefredakteur. »Sie haben natürlich recht. Aber diese Leute sind hartnäckig und haben mir versichert,dass Sie das Mahl, das Sie erwartet, nicht so schnell vergessen werden.«
»Ich habe noch nie ein Mahl vergessen«, sagte der Kritiker und rieb sich geistesabwesend den Bauch. »Jedes ist noch da.«
VII
S eit Doras zehntem Lebensjahr war Chance das Wort, das am meisten Gewicht hatte – in ihrer Familie und in ihrem eigenen Wortschatz. Auch wenn sie nicht viel von Geschichte verstand und sich auch nicht dafür interessierte, kam es ihr vor, als hätte der Begriff vor 1989 nicht existiert. Das Leben vor der Wende drehte sich um
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