Elsas Küche: Roman (German Edition)
sie ausdachte. Während er weinend auf dem Boden um sich schlug, zog sie ihm Socken und Schuhe an und dann seine Kleider. Sie rief ein Taxi und half ihm hinein. Siefuhr mit zum Bahnhof. Irgendwie entlockte sie ihm, wohin er fahren wollte, und kaufte ihm eine Zugfahrkarte nach Rom. Sie wartete sogar mit ihm am Bahnsteig und ließ ihn an ihrer Brust weinen. Als der Zug da war, stieg sie mit ihm ein, brachte ihn zu seinem Platz und gab ihm eine Flasche Wasser. Sie tätschelte ihm den Kopf und sagte, er solle auf sich aufpassen. Dann ließ sie ihn los und ging. Er saß mit Tränen in den Augen im Zug, und die anderen Passagiere starrten ihn nervös an.
»Sein Hund und seine Mama sind gerade gestorben«, verkündete sie. »Bitte sorgen Sie dafür, dass er nach Rom kommt.«
Die Passagiere nickten. Die Ersatz-Isabelle ging zurück in ihre Wohnung. Sie nahm die goldene Halskette ab, auf der Michele stand. Sie entsann sich, dass ihre Großmutter Isabelle eine Brille getragen hatte. Sie griff in die Kommode und zog ein Brillengestell aus Horn hervor. Was bedeuten schon Namen? , fragte sie sich. Und nahm sich vor, ihr Ehre zu erweisen.
Als der Kritiker nach Rom kam, holte ihn seine Schwester Gina vom Bahnhof ab. Ihr Gesicht war hart und streng. Er ging auf sie zu, und noch bevor er sie fragen konnte, was geschehen war, bevor er sie in die Arme nehmen und küssen konnte, in der Hoffnung, sie zu trösten und alles besser zu verstehen – gab sie ihm eine schallende Ohrfeige.
»Untersteh dich!«, sagte sie. »Glaubst du vielleicht, ich würde deine stinkenden dicken Lippen küssen? Wer weiß, wo die gerade gewesen sind. Während unsere Mutter im Krankenhaus in den letzten Zügen liegt, nach dir ruft undfragt, wo du bist, weil sie ein letztes Mal mit dir sprechen will, lässt du irgendeine Schlampe auf deinem Gesicht herumhopsen! So liebst du uns? Wenn sie unter der Erde ist, bin ich fertig mit dir. Und zwar für immer, verstehst du? Komm jetzt, wir müssen das richtige Bestattungsunternehmen finden. Wir haben viel zu erledigen.«
Der Kritiker war am Boden zerstört. Er nickte und trottete kleinlaut hinter ihr her. Eigentlich wollte er ihr alles erklären, aber er brachte es nicht fertig. Er lief hinter Gina her, aus dem Bahnhof hinaus zu ihrem Wagen. An diesem Tag gingen sie zu siebzehn Bestattungsunternehmen. Sie ließen sich Broschüren geben und sahen sich 147 Särge an.
In Wahrheit hatte die Mama des Kritikers nicht nach ihm gerufen. Sie hatte auch nicht nach ihm gefragt, sondern war ganz plötzlich beim Abendessen gestorben, mitten zwischen zwei Gängen. Als sie gerade ihre Vorspeise gegessen hatte – gebratenen Tintenfisch –, fing ihre linke Schläfe an zu surren. Sie versuchte, dem Kellner zu erklären, dass der Tintenfisch wie Gummi sei, doch dann blickte sie auf und sah, dass ihre Tochter Gina sie nicht gehört hatte und sie wie üblich mit gequältem, besorgtem Gesicht ansah. Kein Grund zur Sorge, versuchte sie zu sagen. Mach kein so finsteres Gesicht! Es ist nichts weiter, nur dass der Tintenfisch wie Gummi ist.
Und dann fiel ihr Gesicht in eine Schüssel Tentakeln.
Während all dieser Ereignisse hatten Elsas frühere Dozenten, die es ja gut mit ihr meinten, dem unglücklichen Mann am Telefon in den Ohren gelegen und ihn mit Nachrichtenbombardiert. Weil sie ihn nicht erreichen konnten, hatten sie zunächst den Chefredakteur des Gourmand kontaktiert. Der schüttelte den Kopf und machte sich nicht einmal die Mühe, den unhöflichen Männern eine Erklärung zu geben. Seltsam, vielleicht kommt doch noch etwas Gutes dabei heraus , dachte er. Eine solche Reise wäre vielleicht ein willkommener Tapetenwechsel für den Kritiker, er könnte ihn auf andere Gedanken bringen. Der Chefredakteur versprach den Dozenten, mit dem Kritiker zu reden und ihn so bald wie möglich nach Ungarn zu schicken.
Der Kritiker, der gerade zwei Beerdigungen hinter sich hatte – die seiner Mama und die von Isabelle, beide ganz wunderschön, voller Blumen, Tränen und Schuldgefühle – und der mit seiner Schwester Gina noch bis vor wenigen Tagen über Besitz, Prostituierte und jahrelange Beschuldigungen gestritten hatte, fühlte sich plötzlich zu einer Reise gedrängt, auf die er nicht sehr erpicht war. Er wusste, dass er nicht auf der Höhe war. Er wurde immer unberechenbarer, konfuser und immer besessener von seinem eigenen Begräbnis.
»Ich bin im Moment ein bisschen verletzlich«, sagte er. »Aber arbeiten möchte ich eigentlich
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