Elysion: Roman (German Edition)
drohte.
Für den Bruchteil einer Sekunde musste er wieder an seinen kleinen Bruder denken. Vielleicht lag in all dem eine tiefere Gerechtigkeit. Mutter hatte recht gehabt. Es war seine Schuld gewesen, und nun würde er dafür bezahlen.
Bei dem Versuch, ihn von beiden Seiten zu greifen, prallten die beiden Malachim über ihn zusammen, verloren das Gleichgewicht.
Zwar rutschten seine Beine vom Ast und schwangen in der Luft, aber es gelang ihm, einen Arm halb um den Ast zu schlingen und sich festzuhalten, während links und rechts Schatten vor ihm vorbeisausten.
Ein gewaltiger Knall ließ ihn zusammenzucken. Gleichzeitig nahm er unter sich ein kurzes Aufblitzen wahr. Ein Schwall Hitze erreichte seine Fußspitzen und verflog wieder.
Jimmy strampelte. Der Ast, über den er den Arm geworfen hatte, war hier immer noch so breit wie der Rumpf eines Mannes. Schließlich gelang es ihm, einen Fuß über die Rinde zu schieben und sich bäuchlings auf das rettende Holz zu ziehen. Was er dann unter sich sah, verwirrte ihn über alle Maßen.
Tatsächlich waren beide Malachim an ihm vorbeigefallen, doch nun konnte er nur noch einen von ihnen sehen. Wie eine Raubkatze lief er zwischen dem äußersten Zaun und dem mittleren auf und ab. Der andere war nirgendwo auszumachen. Stattdessen waren die Drähte direkt unter Jimmy mit einer seltsamen schwärzlichen Substanz bedeckt. Offenbar eine zähe Flüssigkeit, denn sie tropfte, lange, zähe Fäden ziehend, Draht um Draht nach unten, bis auf die Betonplatten am Boden, wo sie eine dunkle Pfütze bildete. Auch wenn Jimmy nicht wusste, was passiert war, war er sich auf seltsame Weise sicher, dass dies die Überreste des anderen Malach waren. Was immer der Knall zu bedeuten hatte, er musste das Ende des seltsamen Wesens eingeläutet haben. Und es schien an den Drähten zu liegen, denn der zwischen den Zäunen gefangene Malach, durch den vorhin Patricks Stock einfach hindurch gefahren war, hielt sichtbar Abstand davon, offenbar unfähig, diese Barriere mit seinen besonderen Kräften zu überwinden.
Jimmy löste sich von dem Anblick und begann auf dem Ast nach vorn zu robben, um auch den inneren Zaun zu überwinden.
Während er sich seinem Ziel Stück um Stück näherte, sah er, wie das Monster unter ihm kurz innehielt, als ob es sich besinnen würde – und dann den äußeren Zaun durchquerte, als sei er nur eine Fata Morgana.
Jimmy hatte das Seil erreicht. Erleichtert ließ er seine Füße von dem Ast gleiten, dann ließ er sich vorsichtig an dem Seil herab. Kaum dass er in Bodennähe war, empfingen ihn ein halbes Dutzend helfender Hände.
»Das wurde aber verdammt noch mal Zeit.« Rasim blickte ihn mit einer Mischung aus Missbilligung und Unverständnis an, kaum dass er den Boden erreicht hatte. Jimmy fühlte sich unfähig zu irgendeiner Reaktion.
»Wie hast du das gemacht?«, fuhr Rasim unbeirrt fort.
»Was meinst du?«, fragte Jimmy.
»Na, der Malach. Er ist regelrecht in die Luft geflogen. Ka-Wumm.« Rasim breitete die Arme zur Pantomime einer Explosion aus, dann streckte er den Zeigefinger aus. »Das ist alles, was von ihm übrig ist.«
Jimmy folgte Rasims Zeigefinger zu der zähen Substanz, die noch immer von den Drähten tropfte.
»Irgendwie scheint ihnen der Zaun nicht zu bekommen«, murmelte Rasim. »Weißt du, was das da bedeutet?« Er wies auf eine Art Schild, ein gelbes Dreieck mit schwarzem Rand. In der Mitte eine gezackte Linie, die in einer Spitze endete.
Jimmy zuckte mit den Schultern.
»Das ist ein Hochspannungszaun«, meldete sich ein kleiner schwarzhaariger Junge zu Wort. »Da ist Strom drin.«
»Stimmt«, sagte Rasim. »Das war das Wort, das Patrick gebraucht hat. Irgendwas mit Elektrizität, richtig?«
Der Kleine wurde vor lauter Stolz ganz rot im Gesicht, als er sagte: »Mein Vater hat es mir erklärt. Der kennt so was von früher. Ich glaube, er hat mit Strom gearbeitet.«
Jimmy begriff. Darum hatte Patrick sie hergeführt.
In diesem Moment begannen einige der anderen Kinder wieder zu kreischen.
Jimmy und Rasim folgten ihren Blicken zu dem Baum. Der verbliebene Malach kletterte bereits wieder den Stamm hoch.
»Verdammt, der will nicht aufgeben«, sagte Rasim verblüfft und ängstlich zugleich. »Was machen wir jetzt?«
»Keine Ahnung. Warum fragst du mich das andauernd?«, fauchte Jimmy aufgebracht.
Rasim hob beschwichtigend die Hände. »Ich dachte nur. Patrick war doch dein Kumpel. Hat er dir nichts gesagt? Irgendwas muss er sich doch bei alldem
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