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E.M. Remarque

E.M. Remarque

Titel: E.M. Remarque Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Funke Leben
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Stra­ße
be­ob­ach­te­te sie. Sie wa­ren nur we­ni­ge Me­ter von­ein­an­der ge­trennt; aber es war
wei­ter, als wenn sie auf zwei ver­schie­de­nen Erd­tei­len ge­lebt hät­ten. Die
meis­ten der Ge­fan­ge­nen sa­hen zum ers­ten Ma­le, seit sie ein­ge­sperrt wa­ren, die
Stadt so na­he. Sie sa­hen wie­der Men­schen ih­ren täg­li­chen Ge­wohn­hei­ten
nach­ge­hen. Sie sa­hen es wie Din­ge auf dem Mars.
    Ein Dienst­mäd­chen in ei­nem blau­en Kleid mit wei­ßen Punk­ten putz­te in ei­ner Woh­nung
die heil­ge­blie­be­nen Fens­ter.
    Es hat­te die Är­mel auf­ge­krem­pelt und sang.
    Hin­ter ei­nem an­de­ren Fens­ter stand ei­ne al­te, weiß­haa­ri­ge Frau. Die Son­ne fiel
auf ihr Ge­sicht und auf die of­fe­nen Vor­hän­ge und die Bil­der des Zim­mers. An der
Ecke der Stra­ße be­fand sich ei­ne Apo­the­ke. Der Apo­the­ker stand vor der Tür und
gähn­te. Ei­ne Frau in ei­nem Pelz­man­tel aus Leo­par­den­fell ging sehr na­he an den
Häu­sern ent­lang über die Stra­ße. Sie trug grü­ne Hand­schu­he und Schu­he. Die SS
an der Ecke hat­te sie durch­ge­las­sen. Sie war jung und trip­pel­te ge­schmei­dig
über die Schutt­hau­fen. Vie­le Ge­fan­ge­ne hat­ten seit Jah­ren kei­ne Frau mehr
ge­se­hen. Al­le be­merk­ten sie; aber nie­mand sah ihr nach, au­ßer Le­wins­ky.
    »Paß auf!« flüs­ter­te Wer­ner ihm zu. »Hilf hier.«
    Er zeig­te auf ein Stück Stoff, das un­ter dem Mör­tel her­vor­kam. »Da liegt
je­mand.«
    Sie scharr­ten den Mör­tel und die Stei­ne bei­sei­te. Ein völ­lig zer­schmet­ter­tes
Ge­sicht mit blu­ti­gem, kalk­ver­schmier­tem Voll­bart kam dar­un­ter her­vor. Ei­ne Hand
war dicht da­ne­ben; der Mann hat­te sie wahr­schein­lich zum Schutz er­ho­ben, als
das Ge­bäu­de ein­stürz­te.
    Die SS-Leu­te auf der an­de­ren Sei­te der Stra­ße rie­fen der zier­lich klet­tern­den
Per­son in dem Leo­par­den­man­tel auf­mun­tern­de Wit­ze zu. Sie lach­te und
ko­ket­tier­te. Plötz­lich be­gan­nen die Si­re­nen zu heu­len. Der Apo­the­ker an der
Ecke ver­schwand in sei­nem La­den. Die Frau im Leo­par­den­fell er­starr­te und rann­te
dann zu­rück. Sie fiel über die Schutt­hau­fen; ih­re Strümp­fe zer­ris­sen, und ih­re
grü­nen Hand­schu­he wur­den weiß vom Kalk­staub. Die Häft­lin­ge hat­ten sich
auf­ge­rich­tet.
    »Ste­hen blei­ben! Wer sich rührt, wird er­schos­sen!« Die SS von den Stra­ßen­e­cken
rück­te her­an. »Auf­schlie­ßen! Grup­pen for­mie­ren, marsch, marsch!«
    Die Häft­lin­ge wuß­ten nicht, wel­chem Kom­man­do sie ge­hor­chen soll­ten. Ein paar
Schüs­se fie­len be­reits. Die SS-Wa­chen von den Stra­ßen­e­cken trie­ben sie
schließ­lich zu ei­nem Hau­fen zu­sam­men. Die Schar­füh­rer be­rie­ten, was sie tun
soll­ten.
    Es war erst die Vor­war­nung; aber al­le blick­ten un­ru­hig je­den Au­gen­blick nach
oben. Der strah­len­de Him­mel schi­en hel­ler und düs­te­rer zu­gleich ge­wor­den zu
sein.
    Die an­de­re Stra­ßen­sei­te wur­de jetzt le­ben­dig. Leu­te, die vor­her nicht zu se­hen
ge­we­sen wa­ren, ka­men aus den Häu­sern.
    Kin­der schrie­en. Der Ko­lo­ni­al­wa­ren­händ­ler mit dem Schnurr­bart schoß mit
gif­ti­gen Bli­cken aus sei­nem La­den und kroch wie ei­ne fet­te Ma­de über die
Trüm­mer. Ei­ne Frau in ei­nem ka­rier­ten Um­hän­ge­tuch trug sehr vor­sich­tig einen
Kä­fig mit ei­nem Pa­pa­gei weit aus­ge­streckt vor sich her. Die weiß­haa­ri­ge Frau
war ver­schwun­den. Das Dienst­mäd­chen rann­te mit hoch­ge­ho­be­nen Rö­cken aus der
Tür. Le­wins­kys Au­gen folg­ten ihr. Zwi­schen ih­ren schwar­zen Strümp­fen und der
pral­len blau­en Ho­se schim­mer­te das wei­ße Fleisch ih­rer Bei­ne. Hin­ter ihr
klet­ter­te ei­ne dün­ne, al­te Jung­fer wie ei­ne Zie­ge über die Stei­ne. Es war
plötz­lich al­les um­ge­kehrt; die fried­li­che Ru­he auf der Sei­te der Frei­heit war
jäh zer­stört; angst­voll stürz­ten dort die Men­schen aus ih­ren Woh­nun­gen und
lie­fen um ihr Le­ben zu den Luft­schutz­kel­lern. Die Häft­lin­ge auf der
ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te da­ge­gen stan­den jetzt schwei­gend und ru­hig vor den
zer­stör­ten Mau­ern und sa­hen die Flie­hen­den

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