E.M. Remarque
Bluse aus dem Toreingang
kommen. Sie war nicht zum Luftschutzkeller gelaufen. Behutsam trug sie eine
Blechschale mit Wasser und ein Handtuch. Ohne sich um etwas zu kümmern, brachte
sie das Wasser an der SS vorbei und stellte es neben den Verletzten. Die
SS-Leute blickten sich unschlüssig an, sagten aber nichts. Sie wusch das
Gesicht frei.
Der Verletzte brach blutigen Schaum. Die Frau wischte ihn weg. Einer der
SS-Leute begann zu lachen. Er hatte ein unausgereiftes, zusammengeworfenes
Gesicht, mit so hellen Wimpern, daß die blassen Augen nackt erschienen.
Das Flakfeuer hörte auf. In der Stille dröhnte wieder das Klavier. Werner sah
jetzt, woher es kam; aus einem Fenster im ersten Geschoß des
Kolonialwarenladens. Ein blasser Mann mit einer Brille spielte dort an einem
aufrechten braunen Klavier immer noch den Chor der Gefangenen. Die SS grinste.
Einer tippte sich auf die Stirn. Werner wußte nicht, ob der Mann gespielt
hatte, um für sich über das Bombardement hinwegzukommen, oder ob er etwas
anderes gewollt hatte. Er entschloß sich, zu glauben, daß es eine Botschaft
gewesen sei.
Er glaubte immer das Bessere, wenn es ohne Risiko war. Es machte das Dasein
einfacher.
Leute kamen herangelaufen. Die SS wurde militärisch.
Kommandos erschollen.
Die Häftlinge formierten sich. Der Zugführer befahl einem SS-Mann, bei den
Toten und Verletzten zu bleiben; dann kam der Befehl, im Laufschritt die Straße
entlangzurennen.
Die letzte Bombe hatte einen Luftschutzkeller getroffen. Die Gefangenen sollten
ihn ausgraben.
Der Krater stank nach Säuren und Schwefel. Ein paar Bäume standen mit offenen
Wurzeln schräg am Rande. Das Gitter der Rasenanlagen starrte losgerissen in den
Himmel. Die Bombe hatte den Keller nicht direkt getroffen; sie hatte ihn
seitlich eingedrückt und verschüttet.
Die Häftlinge arbeiteten über zwei Stunden an dem Eingang.
Stufe auf Stufe legten sie die Treppe frei. Sie war schiefgedrückt worden. Alle
arbeiteten, so rasch sie konnten; sie arbeiteten, als seien es ihre eigenen
Kameraden, die verschüttet waren.
Nach einer weiteren Stunde hatten sie den Eingang frei. Sie hörten Schreie und
Wimmern lange vorher. Der Keller mußte irgendwoher noch Luft bekommen. Das
Schreien schwoll an, als sie die erste Öffnung machten. Ein Kopf schob sich
hindurch und schrie, und zwei Hände erschienen direkt unter dem Kopf und
kratzten im Schutt, als wollte ein riesiger Maulwurf sich durcharbeiten.
»Vorsicht!« schrie ein Vorarbeiter. »Es kann noch einstürzen.«
Die Hände arbeiteten weiter. Dann wurde der Kopf von hinten zurückgerissen, und
ein anderer erschien schreiend. Auch er wurde weggerissen. Die Leute kämpften
drinnen in einer Panik um den Platz am Licht.
»Stoßt sie zurück! Sie werden verletzt! Das Loch muß größer gemacht werden.
Stoßt sie zurück!«
Sie stießen in die Gesichter. Die Gesichter bissen nach ihren Fingern. Sie
rissen mit den Picken den Zement los. Sie arbeiteten, als ob es um ihr eigenes
Leben ginge.
Dann war die Öffnung groß genug, daß der erste hindurchkriechen konnte. Es war
ein kräftiger Mann. Lewinsky erkannte ihn sofort. Es war der Mann mit dem
Schnurrbart, der im Kolonialwarengeschäft gestanden hatte. Er hatte sich an die
erste Stelle gearbeitet und schob und ächzte, um durchzukommen. Sein Bauch
blieb stecken. Die Schreie drinnen wurden stärker; er verdunkelte den Keller.
Man zerrte an seinen Beinen, um ihn zurückzureißen. »Hilfe!« stöhnte er mit
einer hohen, pfeifenden Stimme. »Hilfe! Helft mir 'raus! 'raus hier! 'raus! Ich
will euch – ich gebe euch ...«
Seine kleinen schwarzen Augen quollen aus dem runden Gesicht. Der
Hitlerschnurrbart zitterte.
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