E.M. Remarque
Hasen. Keine hundert Meter von ihnen entfernt sprang da eine
Traummahlzeit herum, ein pelziges Bündel, das mehrere Pfund Fleisch enthielt
und das einigen von ihnen die Rettung ihres Lebens hätte sein können.
Meyerhof fühlte es in allen Knochen und Därmen; für ihn wäre das Tier die
Sicherheit gewesen, daß er nicht einen Rückfall bekäme. »Schön, meinetwegen
auch mit Kastanien«, krächzte er. Sein Mund war plötzlich trocken und staubig
wie ein Kohlenkeller.
Der Hase richtete sich auf und schnupperte. In diesem Augenblick mußte eine der
dösenden SS-Wachen ihn gesehen haben. »Edgar! Mensch! Ein Langohr!« schrie er.
»Drauf!«
Ein paar Schüsse knatterten. Erde spritzte auf. Der Hase sprang in langen
Sätzen davon. »Siehst du«, sagte 509. »Sie können besser Häftlinge aus nächster
Nähe treffen.«
Lebenthal seufzte und blickte dem Hasen nach.
»Glaubt ihr, daß wir heute Abend Brot kriegen?« fragte Meyerhof nach einiger
Zeit.
»Ist er tot?«
»Ja. Endlich. Er wollte noch, daß wir den Neuen aus seinem Bett nehmen sollten.
Den mit dem Fieber. Er glaubte, der würde ihn anstecken. Dabei hat er den Neuen
angesteckt. Er jammerte und schimpfte zuletzt auch wieder. Der Priester hat
nicht ganz vorgehalten.«
509 nickte. »Es ist schwer, jetzt noch zu sterben. Früher war es leichter.
Jetzt ist es schwer. So kurz vor dem Ende.«
Berger setzte sich zu 509. Es war nach dem Abendessen. Das Kleine Lager hatte
nur eine dünne Suppe bekommen; für jeden einen Becher voll. Kein Brot. »Was
wollte Handke von dir?« fragte er.
509 öffnete die Hände. »Er hat mir dieses hier gegeben. Einen sauberen Bogen
Briefpapier und einen Füllfederhalter. Er will, daß ich ihm mein Geld in der
Schweiz überschreibe. Nicht die Hälfte. Alles. Die ganzen fünftausend Franken.«
»Und?«
»Dafür will er mich einstweilen leben lassen. Er hat mir sogar so etwas wie
Protektion angedeutet.«
»So lange, bis er deine Unterschrift hat.«
»Das ist bis morgen abend. Es ist schon etwas. Wir haben manchmal nicht so lange
Zeit gehabt.«
»Es ist nicht genug, 509. Wir müssen etwas anderes finden.«
509 hob die Schultern. »Vielleicht hält es vor. Kann sein, daß er denkt, mich
brauchen zu müssen, um das Geld abzuheben.«
»Es kann auch sein, daß er das Gegenteil denkt. Dich loszuwerden, damit du die
Überschreibung nicht widerrufen kannst.«
»Ich kann sie nicht widerrufen, wenn er sie hat.«
»Das weiß er nicht. Und du könntest es vielleicht. Du hast sie unter Zwang
gegeben.«
509 schwieg einen Augenblick. »Ephraim«, sagte er dann ruhig. »Das brauche ich
nicht. Ich habe kein Geld in der Schweiz.«
»Was?«
»Ich habe nicht einen Franken in der Schweiz.«
Berger starrte 509 eine Weile an. »Du hast das alles erfunden?«
»Ja.«
Berger wischte sich mit dem Handrücken über die entzündeten Augen. Seine
Schultern zuckten.
»Was hast du?« fragte 509. »Weinst du etwa?«
»Nein, ich lache. Es ist idiotisch, aber ich lache.«
»Lach nur. Wir haben verdammt wenig gelacht hier.«
»Ich lache, weil ich an Handkes Gesicht in Zürich gedacht habe. Wie bist du nur
auf die Idee gekommen, 509?«
»Ich weiß es nicht. Man kommt auf vieles, wenn es ums Leben geht. Die
Hauptsache ist, daß er es geschluckt hat. Er kann nicht einmal etwas
herausfinden, bevor der Krieg zu Ende ist. Er muß es einfach glauben.«
»Das ist richtig.« Bergers Gesicht war wieder ernst. »Deshalb traue ich ihm
nicht.
Er kann seinen Koller kriegen und etwas Unvermutetes tun. Wir müssen Vorsorgen.
Am besten ist es, wenn du stirbst.«
»Sterben? Wie? Wir haben kein Lazarett. Wie sollen wir das schieben? Hier ist
die letzte Station.«
»Über die allerletzte. Über das Krematorium.« 509 sah Berger an. Er sah das
sorgenvolle Gesicht mit den tränenden Augen und dem schmalen Schädel, und er
spürte eine Welle
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