E.M. Remarque
an.
Einem der Scharführer schien das aufzufallen. »Ganze Abteilung kehrt!«
kommandierte er. Die Sträflinge starrten jetzt auf die Ruinen. Die Trümmer
waren grell von der Sonne bestrahlt. Nur in einem der gebombten Häuser war ein
Durchgang zu einem Keller freigeschaufelt worden. Dort sah man Stufen, ein
Eingangstor, einen dunklen Korridor und in dem Dunkel einen Streifen Licht von
einem nach hinten führenden Ausgang.
Die Scharführer waren unschlüssig. Sie wußten nicht, wohin mit den Sträflingen.
Keiner dachte daran, sie in einen Luftschutzkeller zu führen; die Keller waren
ohnehin voll von Zivilisten. Aber die SS hatte auch kein Interesse daran,
selbst ungeschützt zu bleiben. Einige von ihnen durchsuchten rasch die nächsten
Häuser. Sie fanden einen betonierten Keller.
Der Ton der Sirenen wechselte. Die SS lief auf den Keller los.
Sie ließ nur zwei Posten im Hauseingang und je zwei an den Straßeneingängen
zurück. »Kapos, Vormänner, aufpassen, daß keiner sich muckst! Wer sich bewegt,
wird erschossen!«
Die Gesichter der Häftlinge spannten sich. Sie blickten auf die Mauern vor sich
und warteten. Es war ihnen nicht befohlen worden, sich hinzulegen; die SS
konnte sie stehend besser überwachen. Stumm standen sie, zu einem Haufen
gedrängt, umkreist von den Kapos und Vormännern. Zwischen ihnen lief der
Vorstehhund umher. Er hatte sich losgerissen und suchte 7105. Als er ihn fand,
sprang er an ihm hoch und versuchte, sein Gesicht zu lecken.
Für einen Augenblick verstummte der Lärm. In die unerwartete Stille, die wie
ein luftleerer Raum war und an allen Nerven riß, klangen plötzlich die Töne
eines Klaviers.
Sie klangen laut und klar und waren nur kurze Zeit deutlich hörbar; Werner
erkannte trotzdem, in der ungeheuren Bereitschaft des Lauschens, daß es der
Chor der Gefangenen aus Fidelio war, der gespielt wurde. Es konnte kein Radio
sein; das spielte keine Musik bei Fliegeralarm. Es mußte ein Grammophon sein,
das vergessen wurde, abzustellen, oder aber es war jemand, der bei offenem
Fenster Klavier spielte.
Der Lärm setzte wieder ein. Werner klammerte sich mit aller Konzentration an
die wenigen Töne, die er gehört hatte. Er preßte die Kiefern zusammen und
versuchte, sie im Gedächtnis weiterzuführen. Er wollte nicht an Bomben und Tod
denken.
Wenn es ihm gelang, die Melodie zu finden, würde er gerettet werden. Er schloß
die Augen und fühlte die harten Knoten der Anstrengung hinter der Stirn. Er
durfte nicht jetzt noch sterben.
Nicht auf diese sinnlose Weise. Er wollte nicht einmal daran denken. Er mußte
die Melodie finden; die Melodie dieser Gefangenen, die befreit wurden. Er
ballte die Fäuste und versuchte, die Töne des Klaviers weiter zu hören; aber
sie waren ertrunken im metallischen Toben der Angst.
Die ersten Explosionen erschütterten die Stadt. Das Gellen der stürzenden
Bomben schnitt durch das Sirenengeheul. Der Boden zitterte. Von einer Mauer
fiel langsam ein Stück Gesims. Einige der Gefangenen hatten sich in den Schutt
geworfen. Vorarbeiter rannten heran. »Aufstehen! Aufstehen!«
Man hörte ihre Stimmen nicht. Sie zerrten an den Leuten.
Goldstein sah, wie einem Gefangenen, der sich hingeworfen hatte, der Schädel
brach und Blut heraussprudelte.
Der Mann, der neben ihm stand, griff nach seinem Bauch und fiel vornüber. Es
waren keine Bombensplitter; es war die SS, die schoß. Die Schüsse waren nicht
zu hören gewesen.
»Der Keller!« rief Goldstein durch den Lärm Werner zu. »Dort der Keller! Sie
werden uns nicht verfolgen!«
Sie starrten auf den Eingang. Er schien größer zu werden. Die Dunkelheit darin
war kühle Rettung. Sie war ein schwarzer Strudel, dem zu widerstehen
Weitere Kostenlose Bücher