E.M. Remarque
näher.«
»Was? Was weißt du davon? So sprich doch! Wo liegt Lohme? Wie weit vom Rhein?
Weit?«
Sulzbacher versuchte die Augen offen zu halten. »Ja – ziemlich weit – fünfzig –
siebzig – Kilometer – morgen ...« sagte er noch, dann fiel sein Kopf nach vorn.
»Morgen – jetzt muß ich schlafen ...«
»Es sind ungefähr siebzig Kilometer«, sagte Ahasver. »Ich war da.«
»Siebzig? Und von hier?« 509 begann zu rechnen.
»Zweihundert – zweihundertfünfzig ...« Ahasver hob die Schultern. »509«, sagte er
ruhig. »Du denkst immer an Kilometer. Hast du auch schon daran gedacht, daß sie
mit uns dasselbe machen können wie mit diesen da? Das Lager auflösen – uns
wegschicken – und wohin? Was wird dann aus uns? Wir hier können nicht mehr
marschieren.«
»Wer nicht marschieren kann, wird erschossen ...« Rosen war mit einem Ruck
aufgewacht und schlief bereits wieder.
Alle schwiegen. Sie hatten noch nicht so weit gedacht. Wie eine schwere Drohung
hing es plötzlich über ihnen. 509 starrte auf das silberne Wolkengeschiebe am
Himmel.
Dann starrte er auf die Straßen im Tal, die im halben Licht schimmerten. Wir
hätten die Suppe nicht hergeben sollen, dachte er einen Augenblick. Wir müssen
marschieren können.
Aber wozu würde es schon genützt haben? Höchstens für ein paar Minuten Marsch.
Die Neuen waren tagelang vorwärtsgetrieben worden. »Vielleicht erschießen sie
bei uns die nicht, die zurückbleiben«, sagte er.
»Nein«, erwiderte Ahasver mit trübem Spott. »Sie werden sie mit Fleisch füttern
und neu einkleiden und ihnen Auf Wiedersehen winken.« 509 sah ihn an. Ahasver war
völlig ruhig. Ihn konnte wenig mehr schrecken.
»Da kommt Lebenthal«, sagte Berger.
Lebenthal setzte sich neben sie. »Hast du drüben noch was gehört, Leo?« fragte
509.
Leo nickte. »Sie wollen soviel wie möglich von dem Transport loswerden.
Lewinsky hat es von dem rothaarigen Schreiber auf der Schreibstube. Wie sie sie
loswerden wollen, wußte er noch nicht genau. Aber es soll bald sein; sie können
die Toten dann absetzen als gestorben durch die Folgen des Transports.«
Einer der Neuen fuhr aus dem Schlaf empor und schrie. Dann sank er wieder
zurück und schnarchte mit weit offenem Munde.
»Wollen sie nur Leute vom Transport erledigen?«
»Lewinsky wußte bloß das. Aber er läßt uns sagen, wir sollten aufpassen.«
»Ja, wir müssen aufpassen.« 509 schwieg einen Augenblick.
»Das heißt, daß wir die Schnauzen halten sollten. Das ist es, was er damit
meint. Oder nicht?«
»Klar. Was sonst?«
»Wenn wir die Neuen warnen, werden sie vorsichtig werden«, erklärte Meyer.
»Und wenn die SS eine bestimmte Anzahl erledigen will und sie nichts findet,
wird sie den Rest von uns nehmen.«
»Stimmt.« 509 blickte auf Sulzbacher, dessen Kopf schwer an Bergers Schulter
lag.
»Also, was wollen wir machen? Schnauzen halten?«
Es war eine schwere Entscheidung. Wenn ausgesiebt wurde und sich nicht genug
Neue fanden, war es leicht möglich, daß die Zahl mit Leuten vom Kleinen Lager
ausgefüllt wurde; um so mehr, als die Neuen nicht so herunter waren wie die
anderen.
Sie schwiegen lange. »Sie gehen uns nichts an«, sagte Meyer dann. »Wir müssen
erst für uns sorgen.«
Berger rieb seine entzündeten Augen. 509 zerrte an seiner Jacke. Ahasver drehte
sich zu Meyer hinüber. Das fahle Licht blinkte in seinen Augen. »Wenn die uns
nichts angehen«, sagte er, »dann gehen auch wir niemanden was an.«
Berger hob den Kopf. »Du hast recht.«
Ahasver saß ruhig an der Wand und antwortete nicht. Sein alter, ausgemergelter
Schädel mit den tief liegenden Augen schien etwas zu sehen, was keiner sonst
sah.
»Wir werden es den beiden hier sagen«, erklärte Berger. »Sie können dann die
anderen warnen. Mehr können wir nicht tun. Wir wissen ja nicht, was noch
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