E.M. Remarque
gefärbten Haar. – »Abteilung
halt!«
Die Häftlinge glaubten es fast nicht. Sie hatten erwartet, bis zum Tode weiterrennen
zu müssen. Baracken, Platz und Menschen wirbelten in einer Sonnenfinsternis vor
ihnen. Sie hielten sich aneinander. Niemann setzte seine geputzte Brille wieder
auf. Er hatte es plötzlich eilig. »Bringt die Leichen hier herüber.«
Sie starrten ihn an. Es waren bis jetzt noch keine Leichen da.
»Die Umgefallenen«, verbesserte er sich. »Die, die liegengeblieben sind.«
Sie wankten hin und packten die Liegenden an Armen und Beinen. An einer Stelle
lag ein ganzes Knäuel von Menschen.
Sie waren dort übereinandergestürzt. 509 sah Sulzbacher im Durcheinander. Er
stand und trat, gedeckt durch andere vor ihm, einem Mann, der auf dem Boden
lag, gegen die Schienbeine und zerrte ihn an den Haaren und an den Ohren. Dann
bückte er sich und riß ihn auf die Knie. Der Mann fiel bewußtlos zurück.
Sulzbacher stieß ihn wieder, schob ihm die Hände unter die Arme und versuchte,
ihn aufzurichten. Es gelang ihm nicht. Er schlug jetzt wie verzweifelt mit den
Fäusten auf den Bewußtlosen ein, bis ein Blockältester ihn wegschob.
Sulzbacher drängte wieder hinüber. Der Blockälteste gab ihm einen Tritt. Er
glaubte, Sulzbacher habe eine Wut auf den Bewußtlosen und wolle sie noch an ihm
auslassen. »Du verdammtes Mistvieh!« knurrte er. »Laß ihn doch in Ruhe. Er geht
sowieso hops.«
Der Kapo Strohschneider kam mit dem flachen Lastwagen, auf dem sonst die
Leichen transportiert wurden, durch die Drahtverhaupforte gefahren. Der Motor
knatterte wie ein Maschinengewehr. Strohschneider fuhr an den Haufen heran. Die
Gefallenen wurden aufgeladen. Einige versuchten noch zu entkommen. Sie waren
wieder bei Bewußtsein. Aber Niemann paßte jetzt auf; er ließ keinen mehr fort,
auch niemand von denen, die sich freiwillig gemeldet hatten. »Wegtreten, wer
nicht hierher gehört!« schrie er. »Die, die sich krank gemeldet haben, den Rest
aufladen!«
Die Leute stürzten fort, in die Baracken, so rasch sie konnten.
Die Bewußtlosen wurden aufgeladen. Dann gab Strohschneider Gas. Er fuhr so
langsam, daß die Freiwilligen zu Fuß folgen konnten. Niemann ging nebenher. »Eure
Leiden sind jetzt zu Ende«, sagte er mit veränderter, fast freundlicher Stimme
zu seinen Opfern.
»Wo werden sie hingebracht?« fragte einer von den Neuen in Baracke 22.
»Block 46 wahrscheinlich.«
»Was passiert da?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte 509. Er wollte nicht sagen, was man im Lager
wußte – daß Niemann eine Kanne Benzin und ein paar Injektionsspritzen in einem
Raum des Versuchsblocks 46 hatte und daß keiner von den Gefangenen wiederkommen
würde. Strohschneider würde sie abends zum Krematorium bringen.
»Weshalb hast du den einen noch so geprügelt?« fragte 509 Sulzbacher.
Sulzbacher sah ihn an und erwiderte nichts. Er würgte, als müsse er einen
Klumpen Watte schlucken, und ging dann fort.
»Es war sein Bruder«, sagte Rosen.
Sulzbacher erbrach sich, ohne daß etwas anderes aus seinem Munde kam als ein
bißchen grünlicher Magensaft.
»Sieh mal an! Immer noch da? Dich haben sie wohl vergessen, was?«
Handke stand vor 509 und musterte ihn langsam von oben bis unten. Es war zur
Zeit des Abendappells. Die Blocks waren draußen angetreten. »Du solltest doch
aufgeschrieben werden. Muß mich mal danach erkundigen.«
Er wippte auf seinen Hacken hin und her und starrte 509 mit hellblauen,
vorstehenden Augen an. 509 stand sehr still. »Was?« fragte Handke.
509 antwortete nicht. Es wäre Wahnsinn gewesen, den Blockältesten durch irgend
etwas zu reizen. Schweigen war immer das beste. Alles, was er hoffen konnte,
war, daß Handke die Sache wieder vergessen würde
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