E.M. Remarque
war.
»Komm«, sagte Bucher.
509 schüttelte den Kopf. Die Zigarette. Die Henkersmahlzeit.
Die Henkerszigarette.
Wie lange rauchte man daran? Fünf Minuten? Zehn, wenn man langsam rauchte? Ein
Drittel seiner Zeit. Zuviel. Er mußte anderes tun. Aber was? Es war nichts zu
tun. Sein Mund war plötzlich trocken vor Gier nach dem Tabak. Er wollte nicht.
Wenn er rauchte, gab er zu, daß er verloren war.
»Geh weg!« flüsterte er wütend. »Geh weg mit deiner Scheißzigarette!«
Er erinnerte sich an eine ähnliche Gier. Dieses Mal brauchte er nicht lange zu
suchen.
Neubauers Zigarre war es gewesen, damals, als Weber ihn und Bucher, verprügelt
hatte, Weber, wieder. Wie immer. Wie vor Jahren – Er wollte nicht an Weber
denken. Jetzt nicht. Er sah auf die Uhr. Fünf Minuten waren vergangen. Er
blickte auf den Himmel. Die Nacht war feucht und sehr milde.
Es war eine Nacht, in der alles wuchs. Eine Nacht der Wurzeln und Knospen.
Frühling. Der erste Frühling mit Hoffnung. Es war eine zerfetzte, verzweifelte
Hoffnung gewesen, nur der Schatten einer Hoffnung, ein sonderbares, schwaches
Echo aus gestorbenen Jahren, aber schon das war riesig gewesen und hatte
schwindlig gemacht und alles verändert. Er hätte Handke nicht sagen sollen, daß
der Krieg verloren war, dachte etwas in ihm.
Zu spät. Er hatte es getan. Der Himmel schien dunkler zu werden, staubiger,
verkohlter, niedriger, ein endloser Deckel, der sich voll Drohung senkte. 509
atmete mühsam. Er wollte wegkriechen, den Kopf in eine Ecke stecken, ihn in
Erde verbergen, retten, das Herz herausreißen, es verstecken, damit es weiterschlagen
würde, wenn – Vierzehn Minuten. Ein Murmeln hinter ihm, eintönig, singend,
fremdartig. Ahasver, dachte er.
Ahasver, der betet. Er hörte es, und es schien Stunden zu dauern, ehe er sich
erinnerte, was es war. Es war dasselbe Murmeln und Singen, das er oft gehört
hatte – das Gebet für die Toten, Kaddisch. Ahasver sagte bereits Kaddisch über
ihn.
»Ich bin noch nicht tot, Alter«, sagte er nach rückwärts. »Noch lange nicht.
Hör auf mit dem Beten ...«
Jemand antwortete. Es war Bucher. »Er betet nicht«, sagte er.
509 hörte es nicht mehr. Er fühlte plötzlich, wie es kam. Er hatte viele Ängste
in seinem Leben kennen gelernt, er kannte die graue, molluskenhafte Angst der
endlosen Gefangenschaft, er kannte die scharfe, zerreißende Angst kurz vor der
Folter, er kannte die tiefe, huschende Furcht vor der eigenen Verzweiflung – er
kannte sie alle, und er hatte sie bestanden, er kannte sie, aber er wußte auch
um die andere, die letzte, und er wußte, daß sie jetzt da war: die Angst der
Ängste, die große Angst vor dem Tode.
Er hatte sie seit Jahren nicht mehr gehabt, und er hatte geglaubt, sie würde
nie wiederkommen, er könne sie nicht mehr haben, sie sei aufgesogen worden vom
Elend, von der steten Todesnähe und von der letzten Gleichgültigkeit. Nicht
einmal, als er mit Bucher zur Schreibstube ging, hatte er sie gefühlt – aber
jetzt spürte er ihre Eistropfen in seinen Wirbeln, und er wußte, daß es so war,
weil er wieder Hoffnung gehabt hatte, er spürte sie, und sie war Eis und Leere
und Zerfallen und lautloser Schrei. Er hielt die Hände auf den Boden gestemmt
und starrte geradeaus. Das war kein Himmel mehr, dieses saugende, tödliche
Grauen dort über ihm! Wo war das Leben darunter? Wo war der süße Laut des
Wachsens? Wo waren die Knospen? Wo das Echo, das sanfte Echo der Hoffnung?
Flackernd, erlöschend in bitteren Agonien, zischte der letzte, armselige Funke
in den Därmen, und bleiern erstarrte die Welt in Sturz und Furcht.
Das Murmeln. Wo war das Murmeln geblieben? Da war auch kein Murmeln mehr.
509 hob sehr langsam die Hand. Er zögerte, bevor er sie öffnete, als hielte sie
einen
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