E.M. Remarque
Diamanten, der in Kohle verwandelt sein könnte. Er ließ die Finger los
und wartete noch einige Atemzüge, bevor er hinsah auf die beiden bleichen
Striche, die sein Schicksal umgrenzten.
Fünfunddreißig Minuten. Fünfunddreißig! Fünf Minuten mehr als die dreißig, auf
die er gerechnet hatte. Fünf mehr; fünf entsetzlich kostbare, wichtige Minuten.
Aber es war möglich, daß es fünf Minuten länger gedauert hatte, die Meldung bei
der Politischen Abteilung anzubringen – oder Handke konnte sich mehr Zeit
genommen haben.
Sieben Minuten mehr. 509 saß still. Er atmete, und er fühlte wieder, daß er
atmete.
Noch immer war nichts zu hören. Keine Schritte, kein Geklirr, keine Rufe. Der
Himmel war wieder da und wich zurück. Er war nicht mehr nur noch schwarzes
Pressen und Grabgewölk. Wind sickerte hindurch.
Zwanzig Minuten. Dreißig. Jemand hinter ihm seufzte. Der hellere Himmel.
Ferner.
Das Echo wieder, ein fernster Herzschlag, die schmale Trommel des Pulses, und
mehr: das Echo im Echo, Hände, die wieder Hände waren, der Funke, nicht
erloschen – glimmend wieder, und: stärker als vorher. Um ein weniges stärker.
Um etwas, das durch die Angst dazu gekommen war. Kraftlos ließ die linke Hand
die Uhr fallen.
»Vielleicht ...« flüsterte Lebenthal hinter 509 und schwieg, erschreckt und
abergläubisch.
Zeit war plötzlich nichts mehr. Sie zerfloß. Zerfloß nach allen Seiten.
Zeitwasser, irgendwohin verspülend, Hügel hinunter. Es war keine Überraschung,
als Berger die Uhr aufnahm und sagte: »Eine Stunde zehn Minuten. Heute passiert
nichts mehr. Vielleicht nie, 509. Vielleicht hat er es sich überlegt.«
»Ja«, sagte Rosen.
509 wendete sich um. »Leo, kommen die Mädchen nicht heute Abend?«
Lebenthal starrte ihn an. »Daran denkst du jetzt?«
»Ja.«
An was sonst, dachte 509. An alles, was mich wegnimmt von dieser Angst, die die
Knochen zu Gelatine schmilzt. »Wir haben Geld«, sagte er. »Ich habe Handke nur
zwanzig Mark angeboten.«
»Du hast ihm nur zwanzig Mark angeboten?« fragte Lebenthal ungläubig.
»Ja. Zwanzig oder vierzig war egal. Wenn er will, nimmt er es, fertig, und es
ist gleich, ob es zwanzig oder vierzig sind.«
»Und wenn er morgen kommt?«
»Wenn er kommt, kriegt er zwanzig Mark. Wenn er mich gemeldet hat, kommt die
SS. Dann brauche ich das Geld überhaupt nicht.«
»Er hat dich nicht gemeldet«, sagte Rosen. »Sicher nicht. Er wird das Geld
nehmen.«
Lebenthal hatte sich gefaßt. »Behalte dein Geld«, erklärte er. »Ich habe genug
für heute abend.« Er sah, daß 509 eine Gebärde machte. »Ich will es nicht
haben«, sagte er heftig. »Ich habe genug. Laß mich in Ruhe.«
509 stand langsam auf. Er hatte, als er saß, das Gefühl gehabt, er könne nie
wieder aufstehen und seine Knochen seien wirklich zu Gelatine geworden. Er
bewegte sich, seine Arme, seine Beine. Berger folgte ihm. Sie schwiegen eine
Zeitlang.
»Ephraim«, sagte 509 dann. »Glaubst du, daß wir je die Angst wieder loswerden
können?«
»War es so schlimm?«
»So schlimm wie nur möglich. Schlimmer als sonst.«
»Es war schlimmer, weil du mehr am Leben bist«, sagte Berger. »Meinst du?«
»Ja. Wir alle haben uns verändert.«
»Vielleicht. Aber werden wir die Angst je in unserem Leben loswerden?«
»Das weiß ich nicht. Diese ja. Es war eine vernünftige Angst. Eine mit Grund.
Die andere, die ständige, die KZ-Angst – das weiß ich nicht. Es ist auch egal.
Wir müssen einstweilen nur an morgen denken. An morgen und Handke.«
»Daran will ich gerade nicht denken«, sagte 509.
XIII
B erger war auf dem Wege
zum Krematorium. Neben ihm marschierte eine Gruppe von sechs Mann. Er kannte
einen davon. Es war ein Rechtsanwalt, der Mosse hieß. Er war 1932 an einem
Mordprozeß gegen zwei Nazis als Vertreter der Nebenkläger
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