E.M. Remarque
zwei Armagnacs. Ja,
dein Vater ...«
»Was?«
Der Marabu kniff
ein Auge zu. »Er war in seiner Jugend ein paar Monate in New York. Allein. Er
bestand später darauf, daß du Lillian genannt würdest. Deiner Mutter war es
egal. Ich hörte dann, daß er in New York eine – also, eine sehr romantische
Affäre gehabt haben soll. Mit jemand, der Lillian mit Vornamen hieß. Verzeih
mir, aber du hast danach gefragt.«
»Gottlob!« sagte
Lillian. »Ich dachte schon, meine Mutter hätte den Namen in einem Buch gelesen.
Sie las viel.«
Der Vogelkopf
nickte. »Das tat sie. Dein Vater dafür um so weniger. Und du, Lilly? Du willst
hier« – er sah sich um – »nun leben? Glaubst du nicht, daß das ein
Irrtum ist?«
»Ich wollte dich
gerade dasselbe über dich fragen. Nach dem Wein hast du geradezu etwas
Menschliches bekommen.«
Gaston nippte an
seinem Armagnac. »Ich werde eine kleine Gesellschaft für dich geben.«
»Das hast du mir
schon einmal angedroht.«
»Kommst du?«
»Nicht, wenn es ein
Tee oder eine Cocktailparty ist.«
»Zu einem Diner.
Ich habe auch noch ein paar Flaschen Wein – nur ein paar, aber die können
es mit diesem hier aufnehmen.«
»Gut.«
»Du bist ein
schönes Mädchen geworden, Lilly. Aber hart! Hart! Das war dein Vater nicht.«
Hart, dachte
Lillian. Was nennt er hart? Und bin ich es? Oder habe ich nur keine Zeit für
den sanften Betrug, der das Katzengold der guten Manieren über unbequeme
Wahrheiten wirft und das dann Takt nennt?
Sie konnte von ihrem
Fenster den spitzen Turm der Sainte-Chapelle sehen. Sie stach wie eine Nadel
über die grauen Mauern der Conciergerie in den Himmel. Sie erinnerte sich an
die Kapelle von früher. Am ersten Tag, als die Sonne voll schien, ging sie
hinein.
Es war fast Mittag,
und der Raum mit den hohen, bunten Fenstern war vom Licht völlig durchleuchtet,
als wäre er ein durchsichtiger Turm von Strahlen. Er schien nur aus Fenstern zu
bestehen, voll Madonnenblau und glühendem Rot und Gelb und Grün. Das Leuchten
war so stark, daß man die Farben auf der Haut fühlte, als nähme man ein Bad im
bunten Licht. Außer Lillian waren nur noch ein paar amerikanische Soldaten da,
die bald gingen. Sie saß auf einer Bank, umhüllt von Licht wie vom leichtesten
und königlichsten aller Kleider, und sie hätte gewünscht, sich ausziehen zu
können und den durchscheinenden Brokat über ihre Haut gleiten zu sehen. Es war
ein Sturz von Licht, ein Rausch ohne Schwerkraft, ein Fall und ein Schweben zu
gleicher Zeit; sie schien Licht zu atmen, und ihr war, als spiele das Blau und
Rot und Gelb in ihren Lungen und in ihrem Blut, als würde die Trennung durch
Haut und Bewußtsein aufgehoben, und das Licht flute hindurch, so, wie sie es
bei den unsichtbaren Strahlen der Röntgenaufnahmen erlebt hatte, nur daß da das
Skelett enthüllt wurde, während es hier die geheimnisvolle Kraft leuchten zu
machen schien, die das Herz klopfen und das Blut pulsen ließ. Es war das Leben
selbst, und während sie so dasaß, still, ohne sich zu regen, und das Licht auf
sich und in sich hineinregnen ließ, gehörte sie ganz dazu und war eins damit,
sie war nicht mehr ein isoliertes Einzelnes, sondern das Licht nahm sie auf und
schützte sie, und sie hatte plötzlich das mystische Gefühl, daß sie nie sterben
könne, solange es sie so hielt, und daß etwas in ihr nie sterben würde –
das, was zu diesem magischen Licht gehörte. Es war ein großer Trost, und sie
wollte es nie vergessen, und so sollte ihr Leben sein, das, was ihr noch an
Tagen gehörte, fühlte sie, so wie dieses hier, ein Bienenkorb, gefüllt mit dem
leichtesten Strahlenhonig der Welt – Licht ohne Schatten, Leben ohne
Bedauern, Verbrennen ohne Asche ...
Sie erinnerte sich
an das letzte Mal, als sie in der Sainte-Chapelle gewesen war. Ihre Mutter
hatte sie hierher gebracht. Es war
Weitere Kostenlose Bücher