E.M. Remarque
während der Zeit gewesen, als die Gestapo
ihren Vater gesucht hatte. Sie hatten damals tagsüber in Kirchen gelebt, weil
ihnen das als das sicherste erschienen war. Lillian hatte so einen großen Teil
der Kirchen von Paris kennen gelernt, immer in den dunkelsten Ecken hockend und
Gebete vortäuschend. Aber nach einiger Zeit hatte man angefangen auch in die
Kirchen Spione zu schicken, und die Dunkelheit von Notre-Dame war nicht mehr
sicher gewesen. Da hatten Freunde ihrer Mutter geraten, die Tage in der
Sainte-Chapelle zu verbringen; dort wäre ein zuverlässiger Wärter. Lillian war
sich damals in dem glühenden Licht wie ein Verbrecher vorgekommen, der aus
seinem dunklen Unterschlupf unter das erbarmungslos grelle Licht eines
Polizeischeinwerfers gezerrt wird – oder wie eine Aussätzige, die der
weißen, suchenden Helle eines Operationsraumes ausgesetzt ist. Sie hatte es
gehasst und nie vergessen.
Jetzt war nichts
von alldem mehr vorhanden. Die Schatten der Vergangenheit hatten sich im ersten
weichen Ansturm des Lichtes wie Nebel aufgelöst. Hass war nicht mehr da; nur
Glück. Gegen dieses Licht gab es keinen Widerstand, dachte sie. In ihm schmolz
die entsetzliche Fähigkeit des Gedächtnisses, die Erinnerung an Vergangenes
nicht einfach als Lehre, sondern als versteinertes Leben in die Gegenwart zu
übernehmen und diese damit voll zu stopfen wie ein Zimmer mit unnützen, alten
Möbeln, zusammen zu dem, was sie wirklich sein sollte: stärkeres, bewusstes
Leben durch Erfahrung. Lillian streckte sich unter dem Licht. Ihr schien, als
könne sie es hören. Man könnte so vieles hören, dachte sie, wenn man nur still
genug werden könnte. Sie atmete langsam und tief. Sie atmete Gold und Blau und
das weinfarbene Rot. Sie fühlte, wie auch das Sanatorium und sein letzter
Schatten sich in diesen Farben auflösten; die grauen und schwarzen
Gelatineblätter der Röntgenaufnahmen rollten sich zusammen und verbrannten in
einer kleinen, hellen Flamme. Das hatte sie erwartet. Deshalb war sie hierher
gekommen. Strahlenglück, dachte sie, das leichteste der Welt.
Der Wärter mußte
sie zweimal ansprechen. »Es wird geschlossen, Mademoiselle.«
Sie stand auf und
sah das müde, versorgte Gesicht des Mannes. Einen Augenblick konnte sie nicht
verstehen, daß er nicht spürte, was sie fühlte – aber selbst Wunder wurden
in Permanenz wohl zur Gewohnheit. »Wie lange sind Sie schon hier?« fragte sie.
»Zwei Jahre.«
»Kannten Sie den
Wärter, der während des Krieges hier war?«
»Nein.«
»Es muß schön sein,
hier den Tag zu verbringen.«
»Es ist ein
Auskommen«, sagte der Mann. »Sehr knapp. Mit der Inflation.«
Sie holte einen
Geldschein aus der Tasche. Die Augen des Wärters leuchteten auf. Das war ein
Wunder, dachte sie, und es war nichts dagegen zu sagen – es war Brot und
Wein und Leben und wohl auch Glück. Sie trat in den grauen Hof. Wurden Wunder
wirklich eintönig, dachte sie, wenn man sich an sie gewöhnte? Wurden sie zum
Alltag, so wie der Begriff des Lebens hier unten zum Alltag geworden zu sein
schien, zum Licht der Routine, das immer schien, anstatt eine strahlende
Kapelle zu bleiben?
Sie sah sich um.
Die Sonne lag eintönig grell auf den Dächern des Gefängnisses nebenan, aber sie
enthielt alle Strahlen, die in der Kapelle das Fest des Lichtes aufführten.
Polizisten gingen über den Hof, und ein Wagen mit Gesichtern hinter
vergitterten Fenstern rumpelte vorüber. Das Strahlenwunder war eingekreist
zwischen den Bauten der Polizei und der Justizbehörden, umgeben von der
Atmosphäre von Aktenschränken, Verbrechen, Morden, Prozessen, Neid, Bosheit und
dem hilflosen Schatten, den die Menschheit Gerechtigkeit nannte. Die Ironie
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