E.M. Remarque
war
stark – aber Lillian war nicht sicher, ob sie nicht auch eine tiefere
Bedeutung hatte und ob es nicht so sein mußte, damit es ein Wunder blieb. Sie
dachte plötzlich an Clerfayt. Sie lächelte. Sie war bereit. Sie hatte seit
seiner Abfahrt nichts von ihm gehört. Es schmerzte sie nicht; sie hatte es auch
nicht erwartet. Sie brauchte ihn noch nicht; aber es war gut zu wissen, daß er
da war.
Clerfayt hatte in Rom in
Büros, Cafés und Werkstätten herumgesessen. Seine Abende verbrachte er mit
Lydia Morelli. Er dachte im Anfang öfter an Lillian; dann vergaß er sie für
Tage. Sie rührte ihn, etwas, was ihm bei Frauen sonst nicht so leicht
passierte. Sie schien ihm wie ein schöner, junger Hund, der alles übertrieb,
was er tat. Sie würde sich schon gewöhnen, dachte er. Noch glaubte sie, sie
müsse alles einholen, von dem sie annahm, es versäumt zu haben. Sie würde bald
herausfinden, daß sie nichts versäumt hatte. Sie würde sich orientieren und so
werden wie die andern – ähnlich wie Lydia Morelli, aber wahrscheinlich
nicht so perfekt. Sie hatte weder Lydias skeptische Klugheit noch ihre feminine
Rücksichtslosigkeit. Sie war etwas für einen leicht sentimentalen Mann mit
poetischen Idealen, der viel Zeit für sie haben konnte, entschied er –
nichts für ihn. Sie hätte bei Wolkow bleiben sollen. Der hatte scheinbar nur
für sie existiert und sie, natürlich, deshalb auch verloren, so war das nun
einmal. Clerfayt war gewohnt anders zu leben. Er wollte in nichts mehr zu tief
hineingezogen werden. Lydia Morelli war richtig für ihn. Lillian war ein
reizvolles, kurzes Erlebnis in den Ferien für ihn gewesen. Für Paris war sie zu
provinziell, zu anspruchsvoll und zu unerfahren.
Er fühlte sich
erleichtert über seinen Entschluß. Er würde Lillian in Paris anrufen und sie
noch einmal sehen, um es ihr zu erklären. Vielleicht war auch gar nichts zu
erklären. Sicherlich war nichts zu erklären. Sie hatte es sich ohne Zweifel
längst selbst erklärt. Aber wozu wollte er sie dann noch sehen? Er dachte nicht
lange darüber nach. Wozu nicht? Es war ja fast nichts zwischen ihnen gewesen.
Er unterschrieb seinen Kontrakt und blieb noch zwei Tage in Rom. Lydia Morelli
fuhr am selben Tag nach Paris wie er. Er fuhr mit Giuseppe. Lydia mit der
Eisenbahn; sie hasste Autoreisen und Flugzeuge.
10
L illian hatte immer Angst
vor der Nacht gehabt. Nacht hatte etwas mit Ersticken zu tun, mit Schattenhänden,
die nach der Kehle griffen, mit der entsetzlichen und unerträglichen Einsamkeit
des Todes. Sie hatte im Sanatorium monatelang Licht brennen lassen, um der
schneidenden Klarheit der Schneenächte im Vollmond und der Bedrückung der
fahlen, mondlosen Nächte mit dem grauen Schnee, der dann das Farbloseste der
Welt war, zu entgehen. Die Nächte in Paris waren milder. Der Fluss war draußen
und Notre-Dame und ab und zu ein Betrunkener, der auf dem Pflaster Lärm machte,
oder ein Wagen, der auf schwirrenden Reifen über die Straße summte. Als die
ersten Kleider kamen, hängte Lillian sie nicht in den Schrank. Sie hängte sie
um sich herum ins Zimmer. Eines, aus Samt, hing über dem Bett, das silberne
dicht daneben, so daß sie sie anfassen konnte, wenn sie aus dem Schlaf auffuhr,
herausgefallen aus alten Schreckträumen, allein, mit einem erstickten Schrei
fallend, fallend aus endlosem Dunkel in endloses Dunkel – sie konnte dann
ihren Arm ausstrecken und die Kleider anfassen, und sie waren wie silberne und
samtene Seile, an denen sie sich zurückziehen konnte aus dem gestaltlosen
Grauen, zurück in Wände, Zeit, Beziehung, Raum und Leben. Sie strich mit den
Händen darüber, sie fühlte den Stoff und stand auf und ging in ihrem Zimmer
umher, nackt oft, und sie war dann von ihren Kleidern wie
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