E.M. Remarque
Du bist ...«
»Nein, Onkel
Gaston, ich bin nicht verrückt; du bist es. Du, der sich nichts gönnt, nur
damit ein Dutzend Erben, die du hasst und kaum kennst, es später durchbringen.
Und nun genug davon! Bleib zum Essen. Das Restaurant hier ist außerordentlich
gut. Ich werde eines der Kleider anziehen für dich.«
»Ausgeschlossen!
Auch noch Geld rauswerfen für ...«
»Ich lade dich ein.
Ich habe Kredit hier. Du kannst mir dann während des Essens weitererzählen, wie
vernünftige Menschen leben. Jetzt bin ich hungrig wie ein Skiläufer nach sechs
Stunden Training. Nein, hungriger! Anprobieren macht hungrig. Warte unten auf
mich. Ich bin in fünf Minuten fertig.«
Sie kam eine Stunde
später herunter. Gaston saß, blaß vor Wut und Warten, an einem kleinen Tisch,
auf dem eine Blattpflanze stand und ein paar Journale lagen. Er hatte sich
keinen Aperitif bestellt. Sie hatte die große Genugtuung, daß er sie nicht
sofort erkannte. Dafür zwirbelte er seinen Schnurrbart, als er sie im
Halbdunkel der schwachbeleuchteten Treppe herunterkommen sah, richtete sich auf
und warf ihr den Blick eines altmodischen Roués zu. »Ich bin es, Onkel Gaston«,
sagte sie. »Ich hoffe, du weißt, was Inzest ist.«
Gaston hustete.
»Unsinn«, knarrte er. »Ich sehe nur schlecht. Wann habe ich dich das letzte Mal
gesehen?«
»Vor zwei Wochen.«
»Das meine ich
nicht. Vorher.«
»Vor ungefähr vier
Jahren – da war ich halb verhungert und ganz verstört.«
»Und jetzt?«
»Jetzt bin ich
immer noch halb verhungert, aber sehr entschlossen.«
Gaston holte einen
Kneifer aus der Tasche. »Für wen hast du diese Kleider gekauft?«
»Für mich.«
»Du hast
keinen ...«
»Die einzigen
Männer, die es oben zum Heiraten gab, waren Skilehrer. Sie sind nicht übel in
Skianzügen, sonst aber wirken sie wie Bauern am Sonntag.«
»Du bist ganz
allein?«
»Ja, aber nicht so
wie du«, sagte Lillian und ging ihm voran in das Restaurant.
»Was willst du
essen?« fragte Gaston. »Es ist klar, daß ich dich einlade. Ich bin nicht
hungrig. Und für dich? Leichte Krankenkost doch wohl? Ein Omelette, ein
Obstsalat, etwas Vichywasser ...«
»Für mich«,
erwiderte Lillian, »zum Anfang Seeigel, und zwar ein Dutzend, und einen Wodka.«
Gaston blickte
unwillkürlich auf die Preisliste. »Seeigel sind ungesund!«
»Nur für Geizhälse.
Die ersticken daran, Onkel Gaston. Dann ein Filet poivré ...«
»Ist das nicht zu
scharf? Ein gekochtes Huhn, oder hattet ihr im Sanatorium nicht
Hafergrütze ...«
»Ja, Onkel Gaston.
Ich habe alle Hafergrütze und alle gekochten Hühner für mein Leben in den
Bergen mit einem herrlichen Blick auf die Natur gegessen. Genug! Bestelle uns
zum Filet eine Flasche Château Lafite. Oder magst du den nicht?«
»Ich kann ihn mir
nicht erlauben. Ich bin sehr arm geworden, meine liebe Lillian.«
»Ich weiß. Das
macht es so dramatisch, mit dir zu essen.«
»Was?«
»Mit jedem Schluck
trinkt man einen Tropfen deines Herzblutes mit.«
»Pfui Teufel!«
sagte Gaston, plötzlich ganz normal. »Was für ein Bild! Bei solch einem Wein!
Lass uns von etwas anderem reden. Kann ich mal deine Seeigel kosten?«
Lillian reichte ihm
den Teller hinüber. Gaston aß eilig drei. Er sparte noch am Essen; aber beim
Wein trank er bereits mit. Wenn er ihn schon bezahlte, wollte er auch etwas
davon haben.
»Kind«, sagte er,
als die Flasche leer war, »wie die Zeit vergeht! Ich erinnere mich noch an
dich, als du –« Lillian spürte einen kurzen, scharfen Schmerz. »Davon will
ich nichts mehr wissen, Onkel Gaston. Erkläre mir eins: Warum hat man mich
Lillian genannt. Ich hasse den Namen.«
»Das war dein
Vater.«
»Warum?«
»Möchtest du einen
Liqueur zum Kaffee? Kognak? Keinen Chartreuse? Armagnac? Ich hätte es mir
denken können!« Gaston war sichtlich aufgetaut. »Also gut,
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