E.M. Remarque
während ich
die Augen schloß und sie lange und sehr langsam betastete, verstärkte sich der
Eindruck, daß sie alt waren. Ich hatte eine ähnliche Bronze in Brüssel gekannt,
und von ihr hatte man auch erst angenommen, daß sie eine Tang- oder Ming-Kopie
sein könnte. Schließlich hatten die Chinesen ja schon in der Han-Zeit, um
Christi Geburt, ihre Shang- und Chou-Bronzen kopiert und vergraben. Es war
daher schwer, die Patina zu kontrollieren, wenn die Ornamente und der Guß nicht
kleine Fehler aufwiesen.
Ich stellte die Bronze auf die Fensterbank
zurück. Vom Hof her kam das metallische Geschrei der Küchenhelfer, das
Scheppern der Kehrichtkübel und der weiche gutturale Baß des Negers, der sie
hinaustrug. Die Tür wurde aufgerissen. Ich erkannte den Umriß des
Zimmermädchens im erleuchteten Viereck, und ich sah, wie sie zurückfuhr. »Ein
Toter!«
»Unsinn«, sagte ich. »Ich schlafe. Machen
Sie die Tür zu. Mein Bett ist schon aufgedeckt.«
»Sie schlafen doch gar nicht! Was ist denn
das?« Sie hatte die Bronze erspäht.
»Ein grüner Pisspott«, erwiderte ich. »Was
sonst?«
»Was Sie auch immer haben! Aber eines sage
ich Ihnen: so was trage ich morgens nicht hinaus! Ich nicht! Tun Sie das
selber. Hier sind WCs im Hause.«
»Gut.«
Ich legte mich wieder hin und schlief ein,
ohne daß ich es wollte. Als ich aufwachte, war es tiefe Nacht. Es dauerte eine
Weile, ehe ich wußte, wo ich war. Dann sah ich die Bronze und glaubte fast,
wieder im Museum zu sein. Ich setzte mich auf und atmete tief. Ich bin nicht
mehr da, sagte ich unhörbar zu mir selbst, ich bin entkommen, ich bin frei,
frei, frei, und das Wort ›frei‹ wiederholte ich in einem primitiven Coué-Rhythmus,
ich wiederholte es, hörbar jetzt, aber leise und eindringlich und so lange, bis
ich ruhig geworden war. Ich hatte das oft auf der Flucht getan, wenn ich
verstört aufgewacht war. Ich sah die Bronze an, die mit einem letzten Glimmen
der Farbe das Nachtlicht auffing, und spürte plötzlich, daß sie lebte. Es war
jetzt nicht so sehr die Form als die Patina. Die Patina war nicht tot, sie war
nicht aufgeklebt und nicht künstlich auf der aufgerauhten Oberfläche mit Säuren
hervorgerufen, sie war gewachsen, sehr langsam über die Jahrhunderte, sie kam
aus dem Wasser, in dem sie gelegen hatte, aus den Mineralien der Erde, die sich
mit ihr verschmolzen hatten, und kam wahrscheinlich – der Streifen eines
klaren Blaus, das sie am Fuß zeigte, ließ dies vermuten – aus den
Phosphorverbindungen, die vor Hunderten von Jahren durch die Nähe eines
Leichnams entstanden waren. Die Patina hatte den schwachen Schimmer, den im
Museum die nicht polierten Chou-Bronzen durch ihre Porosität gezeigt hatten,
eine Porosität, die das Licht nicht verschluckte, wie es bei künstlich
behandelten Bronzen der Fall ist, sondern es eher ein wenig seidig machte, eher
wie grobe Rohseide.
Ich stand auf und setzte mich ans Fenster.
Ich blieb sehr lange so sitzen, fast ohne zu atmen, sehr still hingegeben einem
Schauen, aus dem ich langsam jeden Gedanken zurückzog.
***
Ich behielt die Bronze noch
zwei Tage, dann ging ich wieder in die Dritte Avenue. Diesmal war der zweite
der Brüder Lowy da, der dem ersten glich, der nur etwas eleganter und
sentimentaler war – soweit das bei einem Kunsthändler möglich ist.
»Bringen Sie die Bronze zurück?« fragte er
und griff nach seiner Brieftasche, um mir die dreißig Dollar zu geben.
»Sie ist echt«, erwiderte ich.
Er sah mich gütig und belustigt an. »Ein
Museum hat sie abgestoßen.«
»Ich halte sie für echt. Ich komme, um sie
Ihnen zurückzugeben, damit Sie sie verkaufen können.«
»Und Ihr Geld?«
»Das zahlen Sie mir mit der Hälfte des
Gewinns aus. So ist es abgemacht.«
Lowy griff in die rechte Tasche, holte
einen
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