E.M. Remarque
zusammenzusein und zu glauben, daß man unsterblich ist«,
sagte ich. »Man glaubt es einen Augenblick so stark, als könne es Wirklichkeit
werden, und deshalb schreien wir uns Worte zu, um es noch tiefer zu spüren,
näher heranzurücken; primitive, gemeine, vulgäre Worte, um uns noch intensiver
ineinander zu bohren, um auch die millimeterschmale Distanz, die uns noch
trennt, zu überwinden, Worte, wie sie Lastwagenchauffeure haben oder
Schlächter, Worte wie Peitschen, nur um näher, tiefer ineinander zu kommen.«
Natascha streckte einen Fuß aus und
betrachtete ihn. Dann lehnte sie sich zurück. »Liebling, mit einer frisierten
Schnauze kann man nicht lieben.«
Ich lachte. »Wer weiß das besser als wir
Romantiker! Ach, über das Federwolkengeschiebe schwindelhafter Worte! Nicht mit
dir. Mit dir braucht man nicht zu lügen.«
»Du lügst schon ganz schön«, sagte Natascha
schläfrig. »Du reißt nicht aus, heute nacht?«
»Nur mit dir zusammen.«
»Gut.«
Sie war ein paar Minuten später
eingeschlafen. Sie konnte das. Ich deckte sie zu. Ich lag lange wach und
horchte auf Nataschas Atem und dachte über viele Dinge nach.
XXI.
B etty Stein war zurück.
»Niemand sagt mir die Wahrheit«, klagte sie. »Weder meine Freunde noch meine
Feinde.«
»Sie haben keine Feinde, Betty.«
»Sie sind ein Schatz. Aber warum sagt man
mir nicht die Wahrheit? Ich kann sie ertragen. Es ist schrecklicher, nicht zu
wissen, was mit mir los ist.«
Ich sah zu Gräfenheim hinüber, der hinter
ihr saß. »Man hat Ihnen die Wahrheit gesagt, Betty. Warum glauben Sie mit
Gewalt, daß die Wahrheit nur das Schlimmste ist? Sind Sie so dramatisch?«
Sie lächelte wie ein Kind. »Ich kann mich
dann anders einstellen. Wenn wirklich jetzt alles in Ordnung mit mir ist, lasse
ich mich weitergehen, ich kenne mich. Wenn ich aber weiß, daß es um Tod oder
Leben geht, werde ich kämpfen. Ich werde wie eine Verrückte um die Zeit
kämpfen, die ich noch habe. Und wenn ich kämpfe, kann ich die Zeit vielleicht
noch verlängern. Sonst aber verliere ich sie. Verstehen Sie das nicht? Sie
müssen das doch verstehen!«
»Ich verstehe es. Aber wenn Doktor
Gräfenheim Ihnen sagt, alles sei in Ordnung, so sollten Sie es doch glauben.
Warum soll er Sie belügen?«
»Weil man das immer tut. Kein Arzt sagt
einem die Wahrheit.«
»Auch nicht, wenn er ein alter Freund ist?«
»Dann erst recht nicht.«
Sie war seit drei Tagen zurück und marterte
sich und ihre Freunde mit diesen Fragen. Die großen, eindrucksvollen und
unruhigen Augen in dem weichen Gesicht, das trotz des Alters immer noch die
Unreife eines jungen Mädchens zeigte, irrten von einem zum andern. Es kam vor,
daß jemand es fertig brachte, sie für kurze Zeit zu beruhigen, dann war sie
kindlich dankbar, aber ein paar Stunden später begannen die Zweifel und die
Fragen wieder. Sie saß in einem alten Ohrenstuhl, den sie bei den Brüdern Lowy
gekauft hatte, weil er sie an Europa erinnerte, und hatte die Kupferstiche von
Berlin um sich. Sie hatte sie vom Korridor in ihr Schlafzimmer gehängt und zwei
kleine, die Stutzen zum Aufstellen hatten, immer neben sich, wohin sie auch
ging. Es störte sie nur vorübergehend, wenn sie in den Zeitungen las, daß
Berlin fast jeden Tag bombardiert wurde. Sie nahm es nur für Stunden zur
Kenntnis, dann allerdings so sehr, daß Gräfenheim ihr im Krankenhaus die
Nachrichten vorenthalten mußte. Es hatte nichts genützt. Am nächsten Tag hatte
er sie weinend vor einem Radio gefunden. Sie war heftigen Kontrasten
ausgesetzt, die sie in einem ständigen Schock hielten. Dazu kam, daß die Trauer
um Berlin mit dem Haß gegen die Mörder, die einen Teil ihrer Familie
ausgerottet hatten, in Widerstreit lag. Als drittes kam schließlich hinzu, daß
sie ihre Trauer nicht offen zeigen konnte, sondern wie
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