E.M. Remarque
unser Dasein hier schattenhaft und
fast obszön macht. Man kämpft – unter anderem – auch für uns, will
uns aber nicht dabeihaben. Und wenn schon, dann nur selten und unter
Vorsichtsmaßregeln und am Rande.«
»In Frankreich konnte man sich zur
Fremdenlegion melden«, sagte Gräfenheim und legte den Schlammheber weg.
»Haben Sie sich gemeldet?«
»Nein.«
»Sie wollten nicht auf Deutsche schießen,
war es nicht das?«
»Ich wollte überhaupt nicht schießen.«
Ich hob die Schultern. »Manchmal bleibt
einem keine Wahl. Man muß auf etwas schießen.«
»Nur auf sich selbst.«
»Unsinn! Aber es ist vielen so gegangen,
daß sie nicht auf Deutsche schießen wollten. Sie wußten, daß die, auf die sie
hätten schießen wollen, nicht an der Front waren. An der Front war das
harmlose, brav gehorchende Kanonenfutter.«
Gräfenheim nickte. »Man traut uns nicht.
Nicht unserer Entrüstung und unserem Haß. Es ist wie bei Tannenbaum, er macht
die Listen, aber er würde niemals schießen. Ungefähr so, oder nicht?«
»Ungefähr so. Selbst Kahn wollten sie nicht
haben. Ich glaube, sie haben recht.«
Ich ging durch die weißen Korridore mit den
weißen Lampen hinaus. Ich ging zurück in die schattenhafte Existenz, als lebte
ich auf einer magischen Insel im Sturm, die aber nur zwei Dimensionen hatte und
keine drei. Es war anders als die Jahre in Europa, wo die dritte Dimension
durch den Kampf gegen Bürokratie, Behörden, Gendarmen, den Kampf um
Aufenthaltserlaubnisse, schwarze Arbeit, mit Zollbeamten und mit Polizisten,
mit dem Kampf um die nackte Existenz gebildet worden war. Hier waren wir
plötzlich in der Windstille, in einer Windstille von Zeitungsschlagzeilen,
Radionachrichten und einem Krieg, der weitab, durch einen Ozean getrennt, auf
einem anderen Kontinent geführt wurde, einem Nachrichtenkrieg, bei dem kein
feindliches Flugzeug je am amerikanischen Himmel erschien, keine Bombe
einschlug, kein Maschinengewehr bellte. Ich ging dahin, in der Tasche die
Nachricht, daß meine Aufenthaltserlaubnis auf weitere drei Monate verlängert
worden war, ein ›Enemy Alien‹, ein feindlicher Ausländer, der aber nicht so
feindlich war, daß man ihn einsperrte; ich wanderte dahin durch den großen Wind
der Stadt, ein Funke Leben, der nicht erlöschen wollte, ein Fremder, der tief
atmete und vor sich hin pfiff, ein bißchen Dasein unter dem falschen Namen
Ross.
***
»Eine Wohnung!« sagte ich.
»Lampen! Möbel! Ein Bett! Eine Frau! Ein elektrischer Grill, auf dem man
Fleischstücke brät! Ein Glas Wodka! Das unglückliche Leben, zu dem ich verdammt
bin, hat aber auch eine helle Seite. Man gewöhnt sich an nichts, und das ist
gut. Man genießt es, als wäre es immer das erste Mal! Man genießt es jedes Mal
vom Knochen her! Nicht von außen; vom Knochen, vom Rückenmark und dem, was vom
Schädel umschlossen ist. Laß dich ansehen. Ich bete dich schon deswegen an,
weil du da bist. Weil wir zur gleichen Zeit leben. Dann erst kommt das andere.
Ich bin Robinson, der immer wieder aufs neue seinen Freitag findet! Spuren im
Sand. Spuren von Füßen. Du bist der erste Mensch. Immer wieder. Das ist die
helle Seite meines verfluchten Lebens.«
»Wieviel hast du getrunken?« fragte
Natascha.
»Nichts. Kaffee und Traurigkeit. Nichts
sonst.«
»Bist du traurig?«
»Man ist für eine kurze Zeit traurig, wenn
man so lebt wie ich. Dann wirft man sich herum wie ein Schlafender nachts. Die
Trauer wird der Hintergrund, vor dem das Leben deutlicher wird. Sie sinkt hinab
wie ein Stein, und der Wasserstand des Lebens wird höher. Was ich dir hier
sage, stimmt nicht ganz. Ich will nur, daß es so sei. Aber etwas daran stimmt
trotzdem. Sonst verschleißt man sich selbst wie ein Stück Samt zwischen
Rasiermessern.«
»Es ist gut, daß du nicht traurig bist«,
sagte Natascha. »Auf die
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