E.M. Remarque
militärischen Berichte gelesen hatte. Ihr eigener Tod und
der Massentod in Deutschland liefen ein Rennen Kopf an Kopf. Betty war eisern
entschlossen, länger auszuhalten.
Sie war früher eine Frau mit einem Herzen
gewesen, das schmolz wie Butter in der Sonne. Sie blieb diese Frau für ihre
Bekannten. Sie konnte keine Träne sehen, ohne daß sie nicht versucht hätte, sie
zu stillen. Aber sie verhärtete sich jetzt gegen den Untergang eines Volkes, er
wurde keine menschliche, sondern eher eine mathematische Katastrophe. Sie
konnte nicht verstehen, warum dieses Volk nicht aufgab. Kahn behauptete, daß
sie das allmählich als eine schwere persönliche Beleidigung auffaßte. Es war
vielen Emigranten unverständlich, am meisten denen, die immer noch an ein
verführtes Deutschland glaubten. Auch sie begriffen nicht, weshalb man drüben
nicht aufgab. Sie waren bereit, dem einfachen Mann zuzugestehen, daß er nicht
anders konnte, er war ja eingeklemmt zwischen Gehorsam und Pflicht. Weshalb
aber der Generalstab weitermachte, obschon er klar voraussah, daß alles
verloren war, begriff niemand. Man wußte, daß ein Generalstab, der einen
verlorenen Krieg nicht beendete, sich aus fragwürdigen Helden in eine Bande von
Massenmördern verwandelte, und blickte voll Abscheu und Entsetzen auf Deutschland,
wo Feigheit, Angst und mißverstandenes Großmannstum diese Verwandlung
gestatteten. Das Attentat auf Hitler machte es nur deutlicher – den
wenigen Mutigen stand die überwältigende Masse egoistischer und mörderischer
Generäle gegenüber, die sich mit Durchhalteparolen, die ihnen selbst nicht
gefährlich werden konnten, vor ihrer Schande retteten.
Für Betty Stein war das alles zur
persönlichen Sache geworden. Der Krieg ging nur noch darum, ob sie den Olivaer
Platz erreichen würde oder nicht. Der Begriff des Blutes hatte sich in
Vormarschziffern aufgelöst. Betty marschierte mit. Wenn sie nachher aufwachte,
grübelte sie darüber nach, wo die Amerikaner inzwischen sein könnten;
Deutschland hatte sich für sie verkleinert, es bestand nur noch aus Berlin. Von
Berlin hatte sie nach langem Suchen eine Spezialkarte gefunden. Hier wurde der
Krieg wieder zu Blut und Grauen für sie. Sie litt ihn mit, wenn sie die
Bombardements markierte. Sie weinte, sie wütete, weil selbst Kinder dort in
Uniformen gesteckt wurden und kämpften. Wie eine traurige Eule starrte sie aus
großen, verschreckten Augen auf uns und begriff nicht mehr, daß ihr Berlin und
ihre Berliner nicht aufgeben wollten und die Parasiten, die ihnen im Nacken
saßen und sein Blut saugten, nicht verjagten.
»Für wie lange gehen Sie fort, Ross?«
fragte sie mich.
»Ich weiß es nicht genau. Für zwei Wochen.
Vielleicht auch für länger.«
»Ich werde Sie vermissen.«
»Ich Sie auch, Betty. Sie sind mein
Schutzengel.«
»Ein Schutzengel, dem der Krebs im Bauche
frißt.«
»Sie haben keinen Krebs, Betty.«
»Ich spüre ihn«, flüsterte sie. »Ich spüre,
wie er nachts frißt. Ich höre ihn. Wie eine Seidenraupe, die Maulbeerlaub
frißt. Ich muß dagegen anessen, sonst frißt er mich zu rasch auf. Ich esse
fünfmal am Tage. Ich darf nicht dünner werden. Ich muß etwas zuzusetzen haben.
Wie sehe ich aus?« – »Glänzend, Betty. Gesund.«
»Glauben Sie, daß ich es schaffen werde?«
»Was, Betty? Daß sie zurückkommen nach
Deutschland? Warum nicht?«
Betty sah mich mit ihren dunkel umrandeten,
hungrigen Augen an. »Werden sie uns reinlassen?«
»Die Deutschen?«
Betty nickte. »Es ist mir heute nacht
eingefallen. Vielleicht nehmen sie uns an der Grenze gefangen und stecken uns
in ein Konzentrationslager.«
»Das ist unmöglich. Dann sind sie doch
besiegt und haben nichts mehr
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