E.M. Remarque
sich empor wie Frauen,
die sich entblößen, von Stockwerk zu Stockwerk, bis ganz oben die Kanten bleich
sichtbar wurden und sich das gestaltlose Chaos mit einem fast fühlbaren Ruck
von den Gebäuden löste, verschwamm und zerfloß. Ich ging und ging, ich wußte,
daß Gehen und tiefes Atmen das einzige war, was mir immer geholfen hatte, und
unwillkürlich blieb ich auf der breiten Fifth Avenue, auf der die Läden im
grauer werdenden Tag verwelkten, als wären ihre eingesperrten Lichtkuben von
Krebs befallen. Ich hielt mich auf der Straße der billigen Zivilisation und der
Luxusgeschäfte, als gäben sie mir Sicherheit und sogar Trost, als schritte ich
diese Avenue nutzloser Bedürfnisse ab, und zu beiden Seiten, hinter den
Steinmauern, fließe bereits klebrig schwarz das Chaos dahin, unterirdisch noch,
aber bereit, auch hier aus den Kanälen hervorzubrechen und alles zu
überschwemmen. Die Nacht erlosch, die haltlose Stunde vor der Frühe nebelte
durch die Straßen, und über den Häuserblöcken erschien plötzlich, zart,
jungfräulich, in Rosa, grauem Silber und einem Zugvögelflug von Lämmerwolken
der junge Tag und legte seine ersten Lichtpfeile auf die obersten Stockwerke
der höchsten Gebäude, die in lichtem Pastell jetzt über dem dunkleren Gewoge
der Straße schwebten. Es war vorbei, dachte ich und blieb vor den Schaufenstern
von Saks stehen, in denen verzauberte Mannequin-Puppen im Dornröschenschlaf
erstarrt schienen. Pelze um den Hals, Stolen, Pelerinen und Nerzkragen darüber,
ein Dutzend erfrorener Anna Kareninas auf der Schnepfenjagd in Rußland. Ich war
auf einmal sehr hungrig und fiel in die nächste Frühstücksstube ein, die offen
war.
***
Betty Stein war jetzt
überzeugt, daß sie Krebs habe. Niemand hatte es ihr gesagt, jeder hatte sie
beruhigt, trotzdem hatte sie sich, mit dem nie erlahmenden Scharfsinn mißtrauischer
Kranker, aus den vielen kleinen Zeugnissen, die sie zusammentrug und nicht
vergaß, allmählich ein größeres Bild gemacht. Sie glich in dieser Zeit einem
General, der alle Detailmeldungen einer Schlacht zusammenträgt und auf einer
großen Karte verzeichnet. Nichts wird vergessen, Widersprüche werden
verglichen, berichtigt und verzeichnet, und langsam schält sich das Bild der
Schlacht heraus – während alle anderen noch Teilerfolge buchen und in
Optimismus schwelgen, hat er allein bereits erkannt, daß die Schlacht verloren
ist, und während rundherum noch Sieg geschrien wird, gruppiert er schon seine
Truppen zum letzten Gefecht.
Betty hatte aus Winken, Blicken, zufälligen
Bemerkungen und Büchern alles zusammengetragen, was ein Mensch nur finden kann,
der um sein Leben kämpft. Die Periode, beruhigt zu werden, war der des
Mißtrauens gewichen, diese der des Zweifels. Jetzt auf einmal fiel die wache
Anspannung aller Sinne zusammen und gab Gewißheit. Aber anstatt nun aufzugeben
und zu resignieren, begann bei Betty ein nahezu heroischer Kampf um jeden Tag.
Sie wollte nicht sterben. Der Tod, der während der Periode des Zweifels neben
ihrem Bett zu stehen schien, wurde von einer unerhörten Anstrengung ihres
Willens verscheucht. Er mochte nach wie vor da sein, aber sie nahm ihn nicht
mehr zur Kenntnis. Sie wollte leben und sie wollte zurück nach Berlin; sie
wollte nicht in New York sterben. Sie wollte zum Olivaer Platz in Berlin. Sie
war von dort gekommen, und dorthin wollte sie zurück.
Sie fing plötzlich an, fieberhaft die
Zeitungen zu studieren. Sie kaufte sich Karten von Deutschland und befestigte
sie in ihrem Schlafzimmer an der Wand, um den Vormarsch der Alliierten zu
verfolgen. Sie besaß bunte Nadeln, die sie jeden Morgen ein Stück weiter
steckte, wenn sie die
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