E.M. Remarque
zu befehlen und anzuordnen. Die Amerikaner und
Engländer und Russen sind dann da und befehlen.«
»Die Russen? Haben die nicht auch
Konzentrationslager? Die werden dann doch in Berlin sein! Werden sie uns nicht
in ihre Bergwerke in Sibirien schicken? Oder in Arbeitslager? So heißen doch
die Lager, in denen man stirbt.«
Ihre Lippen zitterten. »Ich würde darüber
jetzt nicht nachdenken, Betty«, sagte ich. »Warten Sie erst einmal, bis der
Krieg zu Ende ist. Dann werden wir sehen, was passiert. Vielleicht etwas ganz
anderes, als wir heute denken.«
»Was?« fragte Betty ängstlich. »Meinen Sie,
daß der Krieg weitergehen wird, wenn Berlin eingenommen ist? In den Alpen? In
Berchtesgaden?«
Sie dachte nur an den Krieg im Verhältnis
zu ihrem eigenen, rasch ablaufenden Leben. Ich merkte, wie sie mich
beobachtete, und nahm mich zusammen; Kranke waren scharfsichtiger als Gesunde.
»Sie denken, was Kahn denkt«, sagte sie klagend. »Daß die andern sich um Siege
und Niederlagen sorgen und ich nur an den Olivaer Platz denke.«
»Warum sollen Sie das nicht, Betty? Sie
haben genug mitgemacht. Sie können Ihre Gedanken jetzt ruhig auf den Olivaer
Platz beschränken.«
»Ich weiß. Aber ...«
»Hören Sie nicht auf die andern, die Sie
kritisieren. Emigranten sind jetzt weit vom Schuß, und viele verfallen in die
Fehler der Gefangenenpsychosen. So brutal das klingt, es hat Ähnlichkeit mit
Stammtisch-Politikern. Jeder weiß alles und alles noch besser. Bleiben Sie, wie
Sie sind, Betty. Wir haben bereits den General Tannenbaum mit seiner Blutliste.
Wir brauchen keine zwei von der Sorte.«
Regen klatschte an die Scheiben. Es wurde
dunkel im Zimmer. Betty kicherte plötzlich. »Dieser Tannenbaum! Er sagt, wenn
er jemals Hitler im Film spielen müßte, würde er ihn wie einen schäbigen
Heiratsschwindler spielen. So sähe er nämlich aus, mit der falschen
Napoleonslocke und der Bürste unter der Nase. Ein Heiratsschwindler für ältere
Damen!«
Ich nickte. Ich war dieser billigen
Emigrantenwitze müde. Man tut etwas nicht mit Witzen ab, das eine
Weltkatastrophe ausgelöst hat. »Tannenbaum ist unverwüstlich«, sagte ich. »Ein
Mann von goldenem Humor!«
Ich stand auf. »Auf Wiedersehen, Betty. Ich
bin bald wieder da. Dann werden Sie den ganzen Spuk, den Ihnen Ihre reiche
Phantasie jetzt vormacht, vergessen haben und wieder wie früher sein. Sie
hätten Schriftstellerin werden sollen. Ich wollte, ich hätte die Hälfte Ihrer
Phantasie!«
Sie nahm es als das, was es sein sollte,
als ein Kompliment. Die armen, fragenden Augen belebten sich. »Das ist ein
guter Gedanke, Ross! Aber worüber sollte ich wohl schreiben? Ich habe ja gar
nichts erlebt.«
Ȇber Ihr Leben, Betty. Ihr volles Leben
für uns alle.«
»Wissen Sie was, Ross? Das könnte ich
wirklich einmal versuchen.«
»Tun Sie es.«
»Aber wer wird es lesen? Und wer wird es
drucken? Das war es ja mit Moller! Er war verzweifelt, daß niemand in Amerika
etwas von ihm drucken wollte. Deshalb hat er sich erhängt.«
»Das glaube ich nicht, Betty. Ich denke
eher deshalb, weil er hier nicht schreiben konnte«, sagte ich rasch. »Das ist
etwas ganz anderes als bei Ihnen! Moller konnte hier nicht schreiben, es fiel
ihm nichts mehr ein. Im ersten Jahr noch, da war er noch voll Empörung und
Protest. Aber dann wurde er still. Die Gefahr war vorüber, die Empörung wiederholte
sich ohne neue persönliche Erfahrung, sie wurde zu einer rebellischen
Langeweile und von da zu machtloser Resignation. Daß er sein Leben gerettet
fand, genügte ihm nicht, wie den meisten von uns. Er wollte mehr, und daran
zerbrach er.«
Betty hatte aufmerksam zugehört. Ihre Augen
flatterten nicht mehr. »So wie Kahn?« fragte sie.
»Kahn? Was hat das mit Kahn zu
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