E.M. Remarque
Ich wußte auch gleich,
warum ich nach einer Mitteilung suchte. Es war, um mich zu entlasten, um
irgendeine Entschuldigung zu finden, ein Wort von ihm, etwas, das mich
freisprechen konnte. Ich sah nichts. Dafür sah ich den zerschossenen Kopf jetzt
in seiner gräßlichen Wirklichkeit und doch auch so, als sähe ich ihn weit
entfernt, wie durch eine starke Glasscheibe. Ich wunderte mich etwas verwirrt,
warum er sich erschossen hatte, es ging mir sogar durch den Kopf, daß das keine
Todesart für einen Juden sei, aber während ich es dachte, erinnerte ich mich
daran, daß Kahn das gesagt haben könnte in seiner sarkastischen Art, daß es
nicht wahr sei, und daß ich bereute, es überhaupt gedacht zu haben. Qualvoll
überfiel mich der Schmerz wieder und das schlimme Gefühl, das es gibt: Daß
etwas für immer ausgelöscht ist, als wäre es nie gewesen, und daß es vielleicht
durch meine Nachlässigkeit geschehen war.
Ich raffte mich schließlich zusammen. Ich
mußte etwas tun. Mir fiel nichts anderes ein, als Ravic anzurufen. Er war der
einzige Arzt, den ich noch kannte. Ich hob das Telefon vorsichtig ab, als wäre
es auch tot und dürfe nicht mehr benützt werden. Ravic war in seinem Zimmer. Es
war Mittag.
»Ich habe Kahn tot gefunden«, sagte ich.
»Er hat sich erschossen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Können Sie kommen?«
Ravic schwieg einen Augenblick. »Er ist
sicher tot?«
»Sicher. Der Kopf ist zerschmettert.«
Ich hatte das hysterische Gefühl, daß Ravic
überlegte, ob es dann nicht Zeit habe bis nach der Mittagsruhe oder dem
Mittagessen; man denkt vieles und sehr rasch in einem solchen Augenblick.
»Tun Sie gar nichts«, sagte Ravic. »Lassen
Sie alles, wie es ist. Und rühren Sie nichts an. Ich komme sofort.«
Ich legte den Hörer auf. Mir fiel ein, daß
ich ihn abwischen sollte, damit er keine Fingerabdrücke zeige. Ich verwarf den
Gedanken sofort, irgend jemand mußte Kahn ja gefunden und den Arzt
benachrichtigt haben. Wie sehr das Kino unsere Art zu denken korrumpiert hat,
dachte ich und haßte mich sofort, weil ich das dachte. Ich setzte mich auf einen
Stuhl neben der Tür und wartete. Dann erschien es mir feige, so weit entfernt
von Kahn zu sitzen, und ich setzte mich an den Tisch im Zimmer. Überall
entdeckte ich Spuren von Kahns letzter Tätigkeit – einen verschobenen
Stuhl, ein Buch, das geschlossen auf dem Tisch lag. Ich öffnete es und hoffte
daraus Aufschluß zu gewinnen, aber es war weder eine Anthologie deutscher
Dichter noch ein Band von Franz Werfel, sondern ein belangloser amerikanischer
Roman.
Das Schweigen, das keines war, weil der
gedämpfte Lärm von draußen es so sonderbar machte, daß es da war und nicht da
war, wurde drückend. Es schien sich in die schmale dunkle Ecke unter dem Tisch
neben dem Toten zurückgezogen zu haben und dort zu kauern, als warte es darauf,
daß der lebende Lärm endlich verstumme und dem Toten Gelegenheit gebe, sich aus
seiner zusammengesunkenen, unbequemen Haltung auszustrecken, um wirklich zu
sterben und nicht nur von einem hastigen Tod niedergestreckt zu sein wie eine
blutige Beute. Selbst das gelbe Licht schien stillzustehen, paralysiert und im
Fluge festgehalten durch etwas Unsichtbares als es selbst und stärker, so wie
alle Stille plötzlich stärker ist als das geschwindeste Leben. Ich glaubte
einen Augenblick, die Blutstropfen auf den Fußboden fallen zu hören; aber ich
brauchte mich nicht zu vergewissern, daß es nicht sein konnte. Kahn war tot,
und es war unfaßbar, so wie selbst der Tod eines Kaninchens unfaßbar ist, weil
es nicht gelingt, es je zu verstehen, da es zu nahe am eigenen Tod ist und ihn
streift.
Ravic kam leise herein, aber ich schreckte
auf, als wäre er eine Dampfwalze. Er ging gleich zu Kahn hinüber und sah ihn
an. Er beugte
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