E.M. Remarque
die Überwinterer.«
»Zu welcher Welle rechnen Sie mich?« fragte
ich und biß tief in ein Hühnerbein mit Gelee in Portweinsauce.
»Zur späten, zu der, die sich, wenn sie an
die Reihe kommt, schon kreuzt mit der ersten, die zurückläuft. Man kocht
großartig hier, wie?«
»Ist das alles hier im Hause gekocht?«
»Alles. Vriesländer hat in Europa das Glück
gehabt, daß seine Köchin eine Ungarin war. Sie ist ihm treu geblieben und
einige Jahre später über die Schweiz nach Frankreich gefolgt – den Schmuck
von Frau Vriesländer im Magen. Einzelne, sehr schöne, ungefaßte Steine, die
Frau Vriesländer ihr rechtzeitig übergeben hatte. Es wäre im übrigen nicht
notwendig gewesen, niemand kontrollierte sie als Ungarin. Jetzt kocht sie
wieder. Eine Perle!«
Ich sah mich um. Am Büfett standen die
Leute in zwei Reihen.
»Sind das alles Emigranten?« fragte ich.
»Nein, nicht alle. Frau Vriesländer
kultiviert amerikanischen Umgang. Wie Sie hören, spricht auch die Familie nur
noch Englisch. Mit deutschem Akzent, aber englisch.«
»Eine vernünftige Idee. Wie sollen sie es
sonst lernen?«
Kahn lachte. Er hatte ein riesiges Stück
Schweinebraten auf seinem Teller. »Ich bin Freidenker«, sagte er, als er meinen
Blick bemerkte, »und Rotkohl ist eine meiner ...«
»Ich weiß«, unterbrach ich ihn. »Eine Ihrer
zahllosen Liebhabereien.«
»Man kann nicht genug haben. Besonders,
wenn man gefährlich lebt. Man kommt nie auf die Idee, Selbstmord zu begehen.«
»Wollten Sie das je?«
»Ja. Einmal. Der Geruch von gebratener
Leber und Zwiebeln hat mich gerettet. Es war eine verzweifelte Situation. Sie
wissen, das Leben verläuft in mehreren Schichten, die alle ihre Zäsuren haben.
Meistens fallen sie nicht zusammen – so hält die eine Schicht die andern,
die gerade unterbrochen sind. Wenn aber alle Zäsuren einmal gleichzeitig
kommen, ist höchste Gefahr. Das ist die Zeit des Selbstmordes ohne
ersichtlichen Grund. Damals hat mich der Geruch von gebratener Leber und
Zwiebeln gerettet. Ich beschloß, sie noch vorher zu essen! Ich mußte etwas
darauf warten, trank ein Glas Bier, geriet in ein Gespräch. So kam eins zum
andern, und ich funktionierte wieder. Sie glauben mir? Es ist keine Anekdote.
Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, die mir immer einfällt, wenn ich das
trostlose Englisch-Quaken unserer Emigranten höre. Es rührt mich sehr und
erinnert mich an eine alte Emigrantin, die arm und krank und ohne Hilfe war. Sie
wollte sich das Leben nehmen und hätte es auch wohl getan, aber als sie den
Gashahn aufdrehen wollte, fiel ihr ein, wie schwer es ihr gefallen war,
Englisch zu lernen, und daß sie seit einigen Wochen gespürt hatte, wie sie es
besser und besser verstand. Es schien auf einmal schade, das aufzugeben. Das
bißchen Englisch war alles, was sie hatte, und sie klammerte sich daran und kam
durch. Ich muß oft an sie denken, wenn ich das eifrige, beflissene, scheußliche
Anfänger-Englisch höre. Es rührt mich. Sogar bei Vriesländers. Komik schützt
vor Tragik nicht und Tragik nicht vor Komik. Sehen Sie das wunderschöne
Mädchen, das drüben Apfelkuchen mit Schlagsahne hineinschlingt? Ist es nicht
schön?«
Ich blickte hinüber. »Mehr als schön«,
sagte ich erstarrt, »tragisch schön.« Ich blickte noch einmal hin. »Sie ist
hinreißend. Wenn sie den Apfelkuchen nicht mit solcher Hingebung äße, wäre sie
eine der seltenen Frauen, vor denen man niederknien möchte, ohne genau zu
wissen, warum. Welch ein herrliches Gesicht! Hat sie einen Buckel? Oder
Elefantenknöchel? Irgend etwas muß doch mit ihr nicht in Ordnung sein, wenn
diese Göttin sich zu Vriesländers verirrt hat.«
»Warten Sie, bis sie aufsteht«, sagte Kahn
begeistert. »Sie ist perfekt. Die
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