E.M. Remarque
unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben.
»Ich verstehe Sie, aber wie lange kann man
so etwas aushalten?«
Er machte ein schwärmerisches Gesicht. »Für
immer! Es ist das größte Abenteuer, das es gibt.«
»Was?«
»Das größte«, wiederholte er.
»Dummheit? Reine Dummheit? Keine
Langeweile?«
»Keine.« Kahn griff ebenfalls nach der
Vriesländer-Torte. Er schnitt ein Stück mit den Anfangsbuchstaben von ›Vries‹
ab. »Hätte er sich nicht einfach ›Lander‹ nennen können?« sagte er.
»Er wollte ganz neu anfangen«, erwiderte
ich. »Nicht einfach mit dem kaum veränderten Hinterteil seines alten Namens.
Sehr begreiflich.«
»Wie werden Sie sich nennen, wenn Sie
eingebürgert werden?«
»Ich werde einen Witz machen und als
Pseudonym meinen früheren Namen annehmen. Meinen wirklichen Namen. Etwas ganz
Neues.«
»Ich traf in Frankreich einen Zahnarzt. Er
war am Tage vor seiner Ausreise aus Deutschland, die schon genehmigt war, noch
einmal eilig zur Gestapo gerufen worden. Verzweifelt nahm er Abschied von
seinen Angehörigen. Alles nahm an, daß er ins KZ gebracht würde. Aber er wurde
nur über seinen Namen verhört. Es wurde ihm gesagt, daß er mit diesem Namen
unmöglich als Jude ausreisen könne. Er hieß Adolf Deutschland. Man ließ ihn
laufen, als er sich bereit erklärte, unter dem Namen ›Land‹ auszureisen. Er
wäre noch unter ganz anderen Namen ausgereist, meinte er im französischen
Internierungslager.«
Wir waren endlich beim Kaffee angelangt.
Wir fühlten uns wie die Fresser auf einem Bild Breughels des Älteren. »Glauben
Sie, daß sich Vriesländers Prinzipien auch gegen französischen Kognak richten?«
»Er hat Fundador. Portugiesischen oder
spanischen. Etwas süß, aber nicht schlecht.«
Frau Vriesländer kam herein. »Es wird
getanzt, meine Herren. Eigentlich sollte man ja nicht – wegen des Krieges –,
aber es kommt schließlich nur einmal vor, daß man einen solchen Tag feiert. Ein
Tänzchen in Ehren tut niemand weh. Unsere Soldaten hier warten geradezu
darauf.«
Wir entdeckten einige amerikanische
Soldaten. Sie gehörten zum neuen Bekanntenkreis der Vriesländers. Der Teppich
des Wohnzimmers war zusammengerollt worden, und Fräulein Vriesländer, in
flammend rotem Kleide, führte einen jungen Leutnant zur Schlachtbank. Der
Leutnant trennte sich nur ungern von seinen beiden Kameraden, die noch Eis
löffelten. Sie wurden aber gleich von zwei Mädchen zum Tanzen geholt, die sich
verblüffend ähnlich sahen. Die Mädchen waren hübsch und sehr lebhaft.
»Es sind die Koller-Zwillinge«, erklärte
Kahn, »Ungarinnen. Die eine kam vor zwei Jahren an und ließ sich sofort vom Schiff
mit einem Taxi zu einem Arzt fahren, der für seine Schönheitsoperationen
bekannt ist. Sechs Wochen später tauchte sie wieder auf, gefärbt, mit einer
geraden, halb so großen Nase und einem prächtigen Busen. Sie hatte die Adresse
auf der Überfahrt erfahren und rasch gehandelt. Als die Schwester später
nachkam, wurde sie vom Schiff abgeholt und rasch zum selben Arzt gebracht. Böse
Zungen behaupteten: verschleiert. Auf jeden Fall tauchte auch sie nach zwei
Monaten verschönt auf, und die Karriere begann. Jetzt soll noch eine dritte
Schwester angekommen sein, die sich aber nicht operieren lassen will. Dieselben
bösen Zungen behaupten, sie sei irgendwo von den Zwillingen eingesperrt, bis
sie gefügig ist.«
»Haben die unternehmungslustigen Zwillinge
auch ihre Namen operieren lassen?« fragte ich.
»Nein. Sie behaupten, in Budapest Stars
gewesen zu sein. Hier sind sie inzwischen kleine Stars für kleine Rollen. Sie
werden noch weit kommen. Sie sind witzig und intelligent. Und Ungarinnen. Sie
verkörpern das alte
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