E.M. Remarque
Nicht mehr kleinbürgerlich, das habe ich
nur so gesagt. Ich habe es lange nicht mehr gehört. Und da war noch ein anderes
Lied: ›Erst wenn's aus wird sein, mit einer Musik und einem Wein.‹ Das war das
letzte, was man damals hören konnte.« – »Karl kennt es sicher.«
»Ich möchte es lieber nicht mehr hören. Es
war das letzte Lied, bevor die Nazis Österreich einnahmen. Danach gab es nur
noch Marschlieder.«
Natascha schwieg eine Weile. »Karl wird das
andere Lied noch ein paar Mal spielen. Wenn Sie wollen, sagen wir ihm, daß er
es nicht tut.«
»Er hat es doch gerade gespielt.«
»Wenn ich hier bin, spielt er es öfters.«
»Aber wir waren doch schon einmal hier. Da
habe ich es nicht gehört.«
»Da hatte er seinen freien Abend. Jemand
anders spielte.«
»Ich höre es ebenso gerne wie Sie.«
»Wirklich? Hat es keine traurigen
Erinnerungen für Sie?«
»Das ist, wie man es nimmt. Alle
Erinnerungen sind zum Schluß traurig, weil sie mit Vergangenem zu tun haben,
wenn man so will.«
Sie betrachtete mich. »Ich glaube, es wird
jetzt Zeit für einen neuen Moscow Mule.«
»Unbedingt.« Ich betrachtete sie. Sie hatte
wenig von Carmens tragischer Schönheit, dafür wechselte ihr kleines Gesicht sehr
rasch zwischen wacher Intelligenz, einem fast spitzbübischen, pfeilschnellen
und aggressiven Humor und einer plötzlichen, überraschenden Sanftheit.
»Was sehen Sie mich so an?« fragte sie, mit
einemmal hellwach und mißtrauisch. »Glänzt meine Nase?«
»Nein. Ich denke nur darüber nach, warum
Sie so freundlich zu Kellnern und Klavierspielern sind und so aggressiv zu
Ihren Freunden.«
»Weil die Kellner sich nicht wehren
können.« Sie sah mich an.
»Bin ich wirklich so aggressiv? Oder sind
Sie nur übersensibel?«
»Ich glaube, ich bin übertrieben sensibel.«
Sie lachte. »Das glauben Sie gar nicht.
Niemand, der es ist, glaubt es. Glauben Sie das?«
»Auch das.«
Karl begann das Lied aus dem ›Graf von
Luxemburg‹ zum zweiten Male. »Ich habe Sie gewarnt«, sagte Natascha.
Ein paar Leute kamen herein und winkten ihr
zu. Auch vorher hatten andere sie schon begrüßt. Sie kannte sehr viele Leute,
das hatte ich schon bemerkt. Gleich darauf kamen zwei Männer an den Tisch und
sprachen mit ihr. Ich stand dabei und hatte plötzlich jenes Gefühl, das man
hat, wenn ein kleines Flugzeug in ein Luftloch gerät. Nichts war mehr fest,
alles schwebte und fiel, die grün- und blaugestreiften Wände, die vielen Köpfe
und die verfluchte Musik schwankten – es war wie eine
Gleichgewichtsstörung, die blitzartig auftrat. Es konnte nicht der Wodka sein
und auch nicht das Gulasch, dafür war das Gulasch zu gut gewesen und der Wodka
zu wenig. Wahrscheinlich war es die Erinnerung an Wien, dachte ich erbittert,
an Wien und meinen toten Vater, der nicht rechtzeitig genug geflohen war. Ich
starrte auf den Flügel und auf Karl Inwald, ich sah seine Hände auf den Tasten
und hörte kaum etwas. Dann begannen die Wände sich wieder zu beruhigen. Ich
atmete tief und hatte das Gefühl, von einer weiten Reise zurückgekommen zu sein.
»Es wird zu voll«, sagte Natascha Petrowna.
»Die Theater sind aus. Wollen wir gehen?«
Die Theater sind aus, dachte ich, und die
Nachtklubs füllen sich um Mitternacht mit Millionären und Gigolos, und es ist
Krieg und ich hocke dazwischen. Es war ein lächerlicher und ungerechter
Gedanke, denn viele der Männer, die an den Tischen saßen, waren in Uniform, und
sicher waren nicht alle Etappenschweine, sondern es waren wohl auch Urlauber
von der Front darunter, aber mir lag im Augenblick nichts daran, gerecht zu
sein. Ein hilfloser Zorn würgte mich.
Wir drängten uns über den schmalen Gang, an
dem die Pissoirs und Garderoben lagen, zwischen Gelächter und Grüßen hinaus.
Die Straße war warm und feucht. Eine Reihe von
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