E.M. Remarque
mir? dachte er. Weshalb
stehe ich da, und meine Hände fühlen die Luft, als wäre sie ein Nacken und eine
Welle Haar? Zu spät. Man kann nichts zurückholen. Niemand kommt zurück.
Ebensowenig, wie je die gelebte Stunde zurückkommt.
Er ging weiter zum Hotel, über den Hof zum Hintereingang
in die Katakombe. Er sah von der Tür aus eine Anzahl Leute herumsitzen.
Seidenbaum war dabei. Nicht als Kellner, als Gast. Die Gefahr schien vorüber zu
sein. Er trat ein.
Morosow war in seinem Zimmer. »Ich wollte gerade weg«,
sagte er. »Dachte schon, du wärest wieder davon, zur Schweiz, als ich deine
Koffer sah.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja. Die Polizei kommt nicht wieder. Hat sogar die Leiche
schon wieder freigegeben. Klarer Fall. Liegt oben; wird bereits aufgebahrt,«
»Schön. Dann kann ich ja wieder in meine Bude einziehen.«
Morosow lachte. »Dieser Seidenbaum!« sagte er. »Er war
bei der ganzen Sache dabei. Mit einer Aktentasche, irgendwelchen Papieren darin
und seinem Pincenez. Er trat als Advokat und Vertreter der Versicherungsfirma
auf. War ziemlich scharf mit der Polizei. Hat den Paß des alten Goldberg
gerettet. Behauptete, er brauche ihn; die Polizei habe nur Recht auf die Carte
d’Identite. Kam damit durch. Hat er selbst Papiere?«
»Nicht einen Fetzen.«
»Gut«, erklärte Morosow. »Der Paß ist Gold wert. Ist noch
ein Jahr gültig. Irgend jemand kann darauf leben. Nicht gerade in Paris, wenn
er nicht so frech wie Seidenbaum ist. Die Fotografie kann man leicht
austauschen. Für die Änderung der Geburtsdaten gibt es billige Fachleute, wenn
der neue Aaron Goldberg zu jung sein sollte. Moderne Art von Seelenwanderung – ein Paß und mehrere Leben darauf.«
»Dann heißt Seidenbaum
also von jetzt an Goldberg?«
»Seidenbaum nicht. Er hat abgelehnt. Ist unter seiner
Würde. Er ist der Don Quichotte der Untergrund-Weltbürger. Zu fatalistisch
neugierig, was mit seinem Typ passiert, als daß er ihn durch einen geborgten
Paß verfälschen würde. Wie wäre es mit dir?«
Ravic schüttelte den Kopf. »Auch nicht. Ich bin auf
Seidenbaums Seite.«
Er nahm seine Koffer und stieg die Treppen hinauf. Auf
dem Goldbergschen Flur wurde er von einem alten Juden in schwarzem Kaftan mit
Bart und Peijes, der das Gesicht eines biblischen Patriarchen hatte, überholt.
Der Alte ging lautlos, auf Gummisohlen, und es war, als schwebe er dunkel und
bleich durch den düsteren Korridor. Er öffnete die Goldbergsche Tür. Rötliches
Licht, wie von Kerzen, fiel einen Augenblick heraus, und Ravic hörte ein
seltsames, halb unterdrücktes, halb wildes, fast melancholisches, montones
Jammern. Klageweiber, dachte er. Sollte es so etwas noch geben? Oder war es nur
Ruth Goldberg?
Er öffnete seine Tür und sah Joan am Fenster sitzen.
Sie fuhr auf. »Da bist du! Was ist los? Wozu hast du die Koffer? Mußt du wieder
weg?«
Ravic stellte die Koffer neben das Bett. »Nichts ist los.
Es war nur Vorsicht. Irgend jemand ist gestorben. Die Polizei hatte zu kommen.
Es ist alles schon wieder vorbei.«
»Ich habe angerufen. Jemand war am Apparat und sagte, du
wohntest nicht mehr hier.«
»Das war unsere Wirtin. Vorsichtig und klug wie immer.«
»Ich bin hierhergelaufen. Das Zimmer war offen und leer.
Deine Sachen waren nicht mehr da. Ich dachte … Ravic!«
Ihre Stimme zitterte. Ravic lächelte mit Mühe. »Du siehst – ich bin eine
unzuverlässige Kreatur. Nichts, um viel darauf zu bauen.«
Es klopfte. Morosow kam herein, ein paar Flaschen in der
Hand. »Ravic, du hast deine Munition vergessen ...«
Er sah Joan in der Dunkelheit stehen und tat, als bemerke
er sie nicht. Ravic wußte nicht, ob er sie überhaupt erkannt hatte. Er händigte
die Flaschen aus und verabschiedete sich, ohne
Weitere Kostenlose Bücher