E.M. Remarque
einem oberen Stockwerk in den Abgrund. So bewahrt er wenigstens im Tode
seine Menschenwürde vor erneuter Erniedrigung und leistet aktiven Widerstand.
Der Ex-Häftling Schwarz sagt zum Schluß von Die Nacht von Lissabon:
Und solange es noch Leute wie den Lächler gibt,
wäre es ein Verbrechen,ein Leben mit Selbstmord zu verschwenden, das man gegen
Barbaren seinesgleichen einsetzen kann. 9
Am 16. Dezember 1943 wurde
Elfriede Scholz, Remarques Schwester, in Berlin-Plötzensee durch das Beil
hingerichtet. Der Volksgerichtshof hatte sie unter Roland Freislers Vorsitz als
»ehrlose fanatische Zersetzungspropagandistin unserer Kriegsfeinde« am 29.
Oktober 1943 zum Tode verurteilt. Sie soll u. a. gesagt haben,»unsere Soldaten
seien Schlachtvieh, der Führer habe sie auf dem Gewissen«. 10 Eine
Position, die Remarque zweifellos teilte. Allerdings hätte er nicht allein dem
»Führer« die Schuld zugeschoben.
Es ist anzunehmen, daß Remarque vom Schicksal seiner
Schwester wußte, als er die Ravic-Haake-Geshichte konzipierte. 11 Er
durfte sicher sein, daß die machtausübenden Deutschen ihn jämmerlich zu Tode
gequält hätten, wären sie seiner habhaft geworden. Auch aus diesem Bewußtsein
der persönlichen Bedrohung heraus hat sich der unpolitische Individualist und
durch und durch überzeugte Zivilist Remarque zum »militanten Pazifisten«
gewandelt, der den Widerstand des Individuums gegen seine Peiniger
fordert und das alttestamentarische Rachebedürfnis zum Recht und zur Pflicht
der Notwehr des einzelnen gegen die Barbarei fortentwickelt. Hieraus erwächst letztlich
die Verpflichtung zum gemeinsamen Kampf für eine bessere Zukunft, wie in den
Exilromanen angedeutet und in Der Funke Leben explizit ausgeführt ist.
Insofern leistet auch Remarque, wenn auch primär aus der Sicht des
Individualisten, einen wesentlichen Beitrag zu einem Geschichtsverständnis, das
von Menschen und Menscheninteressen – wie Ausbeuten, Unterdrücken, Herrschen –
gestaltetes Handeln nicht nur als blindes Schicksal begreift, sondern als eine
konkrete Aggression gegen andere Menschen und deren andersgeartete, durch
humanistische Grundwerte geprägte Lebensinteressen.
V.
Trotz aller Düsternis und Verzweiflung will Remarque,
wie in allen seinen Romanen, dazu beitragen, daß die Menschheit und ihre
Menschlichkeit zurückfinden aus dem Hades des 20. Jahrhunderts in eine Zukunft,
die jedem einzelnen »Funken Leben« ermöglicht, ein menschenwürdigeres,
erfüllteres Leben zu leben, als es den unzähligen Opfern dieses Jahrhunderts
vergönnt war und auch heute in vielen Teilen der Welt vergönnt ist. Der
Golfkrieg ist ein fürchterliches Beispiel. Afghanistan, Südafrika und
Mittelamerika sind andere.
Eine Utopie? Sicherlich, aber jeder muß daran arbeiten
mit allen seinen Kräften. Ravic ist angetreten unter der Maxime: »Überstehen
war alles, bis irgendwo wieder ein Ziel sichtbar wurde«. In einem der
amüsantesten Kapitel des Romans, in dem es um den richtigen Bilderschmuck für
die Zimmer einer jeden neuen Emigrantenwelle geht, hat Ravic den allzu
verständlichen Wunschtraum, daß die für die Vertreibung ihrer Mitbürger
verantwortlichen Deutschen nach dem Zusammenbruch ihrer Herrschaft selber die
Bitternis des Exils am eigenen Leibe erfahren sollen. Ravic erklärt der Wirtin,
er sähe am liebsten, wenn alle Zimmer des Emigrantenhotels International mit
Bildern von Hitler, Hindenburg und Kaiser Wilhelm vollhingen und die Vertreiber
dort hausen müßten, rechtlos und würdelos wie die Vertriebenen der
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