E.M. Remarque
schüttelte.
Heute hat man nichts – höchstens ein bißchen Verzweiflung, ein bißchen Mut und
sonst Fremde innen und außen. Wenn die Liebe dahinfliegt – das ist wie eine
Fackel in trockenes Stroh. Man hat nichts als sie, das macht sie anders –
wilder, wichtiger und zerstörender.« Er goß sein Glas voll. »Man soll nicht
zuviel darüber nachdenken. Wir sind nicht in einer Situation, um viel
nachzudenken. Es macht nur kaputt. Und wir wollen doch nicht kaputtgehen, wie?«
Joan schüttelte den Kopf. »Nein. Was war das für eine
Frau, Ravic?«
»Eine Patientin. Ich war schon einmal mit ihr da. Damals,
als du noch sangst. Hundert Jahre her. Tust du jetzt irgend etwas?«
»Kleine Rollen. Ich glaube, ich bin nicht gut. Aber ich
verdiene genug, um unabhängig zu sein. Ich will jeden Augenblick weggehen
können. Ich habe keine Ambitionen.«
Ihre Augen waren trocken. Sie trank das Glas Calvados aus
und stand auf. Sie wirkte müde. »Warum ist das alles so in einem, Ravic? Warum?
Es muß doch einen Grund haben. Wir würden doch sonst nicht fragen?«
Er lächelte trübe.
»Das ist die älteste Frage der Menschheit, Joan. Warum –
die Frage, an der alle Logik, alle Philosophie, alle Wissenschaft bis jetzt
zerbrochen sind.«
Sie ging. Sie ging. Sie war an der Tür. Etwas schnellte
in Ravic hoch. Sie ging. Sie ging. Er richtete sich auf. Es war plötzlich
unmöglich, alles war unmöglich, nur eine Nacht noch, eine Nacht, einmal noch
das schlafende Gesicht an der Schulter, morgen konnte man kämpfen, einmal noch
diesen Atem neben sich, einmal noch in dem Fallen die sanfte Illusion, den
süßen Betrug. Geh nicht, geh nicht, wir sterben in Schmerzen und leben in
Schmerzen, geh nicht, geh nicht, was habe ich denn? Was ist mir mein kahler
Mut? Wohin treiben wir? Nur du bist wirklich!
Hellster Traum! Ach, die Asphodelenwiesen des Vergessens!
Einmal nur noch! Einmal den Funken Ewigkeit! Für wen bewahre ich mich denn? Für
welches trostlose Etwas? Für welches finstere Unbestimmt? Begraben, verloren,
zwölf Tage hat mein Leben nur noch, zwölf Tage, und dahinter ist nichts, zwölf
Tage und diese Nacht, schimmernde Haut, warum kamst du gerade in dieser Nacht,
die losgerissen von den Sternen schwimmt, verwölkt von alten Träumen, warum
durchbrachst du die Forts und Verhaue in dieser Nacht, in der niemand mehr lebt
als wir? Hob sich nicht die Welle? Warf sie sich nicht… »Joan«, sagte er.
Sie wandte sich um. Ihr Gesicht war plötzlich überflogen
von einem wilden, atemlosen Glanz. Sie ließ ihre Sachen fallen und stürzte auf
ihn zu.
26
26 Der
Wagen stoppte an der Ecke der Rue de Vaugirard. »Was ist los?« fragte
Ravic.
»Demonstrationszug.« Der Chauffeur sah sich nicht um.
»Kommunisten dieses Mal.«
Ravic blickte zu Kate Hegström hinüber. Sie saß schmal
und zart im Kostüm einer Hofdame Louis XIV. in ihrer Ecke. Ihr Gesicht war
stark gepudert. Es wirkte trotzdem blaß. Die Knochen hatten sich
durchgearbeitet an den Schläfen und an den Wangen.
»Gut«, sagte er. »Juli 1939, eine faschistische
Demonstration des Croix de feu vor fünf Minuten – jetzt eine der Kommunisten –,
und wir beide dazwischen im Kostüm des großen 17. Jahrhunderts. Gut, Kate.«
»Es macht nichts.« Sie lächelte.
Ravic sah auf seine Escarpins herunter. Die Ironie der
Situation war stark. Es war unnötig, noch darüber nachzudenken, daß jeder
Polizist ihn außerdem verhaften konnte.
»Soll ich einen andern Weg nehmen?« fragte Kate Hegströms
Chauffeur.
»Sie können nicht mehr wenden«, sagte Ravic. »Es sind
bereits zu viele Wagen hinter uns.«
Die Demonstration zog ruhig über die Querstraße. Sie
hatten Fahnen und Schilder. Niemand sang. Eine ganze Anzahl Polizisten begleitete
den Zug. An der Ecke der Rue de Vaugirard stand unauffällig eine
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